Reinhard Neudecker, Die vielen Gesichter des einen Gottes. Christlich-jüdischer Dialog: eine Anfrage an Exegese, Theologie und Spiritualität, Patris Verlag, Vallendar / Gregorian & Biblical Press, Rom 2010, 245 Seiten.

 

Als der des Relativismus unverdächtige damalige Kardinal Joseph Ratzinger vom Journalisten Peter Seewald in einem Interview gefragt wurde, wie viele Wege es zu Gott gäbe, bekam er die erstaunliche Antwort: „So viele wie es Menschen gibt“. Auch wenn derselbe Kardinal nunmehr als Papst Benedikt XVI. in Predigten und in seinem Buch „Jesus von Nazareth“ alle Aufmerksamkeit auf die Betrachtung des Antlitzes Christi lenken will, wird er wohl Verständnis haben für „die vielen Gesichter des einen Gottes“. Unter diesem Titel legt nämlich Reinhard Neudecker, Professor für rabbinische Literatur am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom, seine erweiterten und überarbeiteten dokumentarischen Darstellungen und kritischen Analysen des christlich-jüdischen Dialogs vor, wie er seit dem II. Vaticanum sich amtskirchlich und in Äußerungen der Päpste entwickelt hat. Seit der Erstausgabe des Buches im Jahr 1989 (Chr. Kaiser Verlag München) haben vor allem die Aufnahme diplomatischer Beziehungen des Vatikans zum Staat Israel, die Feier des Heiligen Jahres 2000 mit seinen Schuldbekenntnissen, der Besuch Johannes Pauls II. im Heiligen Land und zuletzt der Besuch Benedikts XVI. in der römischen Synagoge (vgl. FrRu 17, 2010, 199-208) den auf dem Konzil eröffneten Paradigmenwechsel in den Beziehungen der katholischen Kirche zum Judentum unwiderruflich festgeschrieben. Neudecker schildert in großer Kenntnis aller exegetischen, theologischen und historischen Problemfelder die mit der Erklärung „Nostra aetate“ begonnenen Etappen des Dialogs und interpretiert die entsprechenden Dokumente, die auch im Anhang des Buches abgedruckt sind. Ein Durchbruch war 1986 der seit dem hl. Petrus erste Besuch eines römischen Papstes in einer Synagoge, bei dem es sowohl auf christlicher wie auch auf jüdischer Seite zunächst erhebliche Einwände gab. Auch die Erklärung „Wir erinnern: eine Reflexion über die Schoa“ (1998) findet eine kritische Kommentierung, die auch die jüdische Sichtweise berücksichtigt. Papst Johannes Paul II., dem der jüdisch-christliche Dialog ein Herzensanliegen der „Brüderlichkeit“ im einen Gottesvolk war, wird als der große Fortführer der Intentionen des Konzils und aufrichtiger Freund des Judentums gewürdigt. Sein viel zu wenig bekanntes „Gebet für das jüdische Volk“ vom 11. Juni 1999 in Warschau kann dies bezeugen (abgedruckt auf Seite 122).

Neudecker vermittelt seine Kenntnis der rabbinischen Theologie im dritten Teil des Buches zum Gottesverständnis des rabbinischen Judentums. Hier kommen die „vielen Gesichter Gottes“ zum Zuge: Gott ist einer, der die Menschen liebt, der mit den Menschen leidet,  der sogar die Menschen braucht. Seine vielen Gesichter widersprechen sich nicht „dialektisch“, sondern offenbaren seine Fülle und seine Sensibilität für die verschieden Situationen der Menschen.  Stellvertretend sei ein rabbinischer Text zitiert: „In wie vielen Bilden und Gleichnissen habe ich mich euch gezeigt! (Klgl 2,13). Am Schilfmeer habe ich mich euch als Held in der Schlacht gezeigt, wie geschrieben steht. ‚Der Herr ist ein Mann des Krieges‘ (Ex 15,3). Am Sinai habe ich mich als greiser Toralehrer gezeigt; denn so ist es angebracht, dass Tora aus dem Mund der Alten hervorgeht. Im Bundeszelt habe ich mich euch als Bräutigam gezeigt, der in sein Brautgemach einzieht“ (Seite 168).

Nach allen vatikanischen Verlautbarungen sind die Christen dazu aufgerufen, die religiöse Welt der Juden so zusehen, wie die Juden selbst sie wahrnehmen und leben. Eine beabsichtigte „Judenmission“ kann und darf es nicht mehr geben. Entkrampfend wirkt, dass Neudecker die jüngsten Irritationen im Zusammenhang mit den erneuerten Karfreitagsfürbitte im außerordentlichen lateinischen Ritus, mit den Einigungsbemühungen um die tendenziell schismatische Piusbruderschaft und der eventuellen Seligsprechung Papst Pius‘ XII. übergeht – und damit als Randphänomene einordnet. Stattdessen wird der bewegende Synagogenbesuch Benedikts XVI. im Januar 2010 als Bestätigung, Vertiefung und Festigung der positiven Anstöße seiner Vorgänger hervorgehoben. Neudecker betont wiederholt: „Juden und Christen sind Söhne und Töchter eines gemeinsamen Vaters und damit Brüder und Schwestern“. Sein Buch ist eine hilfreiche und heilsame Handreichung für alle, die dieses Bewusstsein der Verbundenheit in der Christenheit, in der Kirche und im Judentum vertiefen wollen.

(FrRu NF 17 (4/2010), 313-315; Regnum 44 (3/2010), 141f)