Die Bildung Europas

Zur dritten philosophischen Europa-Tagung an der TU Dresden

 

Der Lehrstuhl für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaft am Institut für Philosophie der Technischen Universität Dresden (Prof. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz) veranstaltete in Zusammenarbeit mit dem Mitteleuropäischen Institut für Philosophie der Karls-Universität Prag (Prof. Dr. Hans Rainer Sepp) im Juni 2010 nach ertragreichen Tagungen über „Das europäische Menschenbild“ (2008) und „Europa und seine Anderen“ (2009) eine dritte von der Robert-Bosch-Stiftung geförderte internationale Tagung unter der Schirmherrschaft des sächsischen Ministerpräsidenten mit dem Titel „Die Bildung Europas. Eine Topographie des Möglichen im Horizont der Freiheit“. Namhafte Referenten und junge Nachwuchswissenschaftler aus vierzehn Ländern, einschließlich der Volksrepublik China, und von achtzehn verschiedenen Universitäten widmeten sich der Bildungsthematik unter verschiedenen Vorzeichen und setzten einen Kontrapunkt gegen die an den Universitäten aktuell grassierende Verstückelung, Modulisierung und Beschränkung auf bloß utilitaristische Aus-Bildung, die nachweislich auch nicht zu dem intendierten internationalen Austausch von Studierenden und Lehrenden geführt hat.

 

Die Tagungsleiterin Gerl-Falkovitz und viele Referenten bemühten öfter den „sächsischen Philosophen“ Friedrich Nietzsche, um aufzuzeigen, dass der Sinn von Bildung mehr ist als ein pragmatischer Zweck. Zitiert wurde auch Mark Twain: „Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn der letzte Dollar verschwunden ist“.  Mit Edmund Husserl könne schließlich der Eindruck entstehen, Europa sei seiner selbst (und damit auch seiner Bildung) „müde“ geworden. Wenn Bildung – wie es zumeist geschieht – mit Lebensbedürfnissen in einen Zusammenhang gebracht wird, ist zu fragen, ob dies nicht einer Voraussetzung unterliegt, die dem Wesen des Menschlichen nicht in seinem vollen Umfang entspricht. Nur in dem Maße, wie Bildung das Leben selbst betrifft, kann sie „zweckmäßig“ sein, ohne ihrem eigenen Sinngehalt zuwider zu laufen. Universität ist nicht nur Ort der Lehre und Forschung, sondern der Ermöglichung von Bildung im Horizont von akademischer Freiheit – so in seinem Vortrag René Kaufmann, der das Konzept der Tagung (www.europatagung.de) mit entwickelte.

 

Die Eröffnungsreferate hielten der bekannte Inhaber der Berliner Guardini-Professur Jean Greisch und der Schriftsteller, Charta 77-Unterzeichner und spätere Botschafter Tschechiens in Bonn Jiří Gruša. Das Auffangen- und Aufbewahrenkönnen von Bildung als Erbe und als Verwirklichung von Möglichkeiten stellte Greisch in Anknüpfung an Hans-Georg Gadamer in die Mitte seiner Ausführungen. Er verwies auf die Gestalt der Göttin des Herdfeuers Hestia und ihren aktiven Gegenspieler Hermes. Gruša hob die Brückenfunktion europäischer Bildung hervor, die verbindet statt individualistisch zu isolieren. Der Dresdener Philosoph Johannes Rohbeck betonte mit Herder die Bildung der Menschheit im geistigen Medium der Sprache, der Wiener Fundamentaltheologe Kurt Appel sieht in der Bildung das Ich des Menschen als durch die Welterfahrung reflektiert – mit der Gefahr, im nihilistischen Schrecken des Terrors zu enden. Er deutet Hegels „Phänomenologie des Geistes“ als letzten universalen Bildungsroman, der je individuell nachzuschreiben sei. Der Mitmensch ist dabei kein angrenzender „Anderer“, sondern biblisch der frei zu lassende „Gast“, den man nicht nach Name, Herkunft oder künftigem Begehren fragen dürfe.  Harald Seubert (Posen) wandte sich gegen die „fetischartige“ Verbindung von Bildung und Lebenschancen und pädagogische Verzweckungen. Weil der Wahrheit zugeordnet widersetze sich der Bildungsbegriff, den er mit Melanchthon auf die Imperative „sapere aude! – ad fontes“ bezog, jeglicher Psychologisierung. Deshalb empfiehlt sich gegen alles Verlernen, „die eigenen großen Bücher zu lesen“. Silvano Zucal (Trient) stellte die Spanierin Maria Zambrano vor, die die „Bildung des Menschlichen“ gegen ein agonisierendes Europa setzte, Jussi Backmann (Helsinki) untersuchte den Bildungsbegriff mit Bezug auf Heidegger.  Edith Düsing (Köln) versuchte, eine Brücke zu schlagen von Kant zu Nietzsche, und dessen Gott-ist-tot-Nihilismus so „umzuwerten“, dass auch die „Meinungsdiktatur eines skeptischen Relativismus“ überwunden werden könnte. Olga Shparaga (Minsk / Vilnius) beschrieb Freiheitserfahrungen durch Bildung im Post-Totalitarismus. Christoph Böhr (Trier) hielt einen luziden Vortrag über europäisches Denken als Einbringen des Unendlichen im Endlichen, aber auch als permanente Differenzierung, Unterscheidung und schließlich Spaltung. Dazu gehört die sokratisch-cusanische Einsicht in das menschliche Nicht-Wissen genauso wie die Tradition des gekreuzigten Gerechten bei Platon und in Jesus Christus. Die Schwäche des Nicht-Wissens hat ihren Anteil am Fehlurteil gegen den/die Gerechten, daher bedarf es um so dringender des Hörens auf die Stimme des Gewissens und des Lebens in einem Glauben, der alles Wissen übersteigt. 

 

Aus christlicher Sicht referierten Mette Lebech (Maynooth/Irland) über Bildung des Menschen und Europas bei Edith Stein, Markus Krienke (Lugano) über die Einheit, Freiheit und Liebe religiöser Bildung bei Antonio Rosmini, Luigi Sturzo und Giovanni Bosco. Der slowenische Dogmatiker Anton Štrukelj (Ljubljana), langjähriges Mitglied der Internationalen Theologischen Kommission in Rom, stellte das Menschenbild Joseph Ratzingers / Benedikts XVI. vor und bezog sich dabei besonders auf dessen Augustinus-Deutung und Kommentierung der Konzilskonstitution „Gaudium et Spes“. Eine weiterführende Zusammenfassung bildeten am Ende der Tagung beeindruckende Grundsatzreferate der beiden Veranstalter Gerl-Falkovitz und Sepp. Es würde zu weit führen, nun noch die lehrreichen und vielfältigen Referate der zahlreichen Nachwuchswissenschaftler (besonders am Dresdener Lehrstuhl) aufzuführen. Sie werden zusammen mit allen anderen Beiträgen in den hoffentlich bald erscheinenden Tagungsband aufgenommen. Eine Erwähnung finden sollte aber unbedingt noch die Bologna-kritische Analyse von bildungstheoretischen „Plastikworten“ durch Cathrin Nielsen (Frankfurt am Main) und die durchsichtige phänomenologische Zeichnung des „Prinzip Empfänglichkeit“ durch Eddo Evink (Groningen). Ergreifender Abschluss der dritten Dresdener Europatagung war der Vortrag der Rabbinerin Eveline Goodman-Thau (Jerusalem / Kassel) über „Bildung in Europa nach Auschwitz – Historische Erfahrungen und ihre Transformationen“. Man kann nur dringend raten, einen Lehrstuhl, der zu international so fruchtbaren Darbietungen, Dialogen und Begegnungen zusammenführen kann, nicht einem bildungsfremden Sparzwang zu opfern.                       

 

 

 

 

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, René Kaufmann, Hans Rainer Sepp (Hg.): Europa und seine Anderen. Emmanuel Levinas, Edith Stein, Józef Tischner, Thelem Verlag, Dresden 2010, 414 Seiten, 49,80 €

 

Die zweite große internationale Tagung zur philosophischen Europa-Forschung am Dresdener Lehrstuhl für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaft widmete sich – nach dem Auftaktthema „Europäische Menschenbilder“ (2008, Tagungsband Dresden 2009) – nun der Philosophie des „Anderen“ bei den großen Phänomenologen Edith Stein (1891-1942), Emmanuel Levinas (1906-1995) und Józef Tischner (1931-2000). Nun liegt der Sammelband mit den zahlreichen Referaten der in Zusammenarbeit mit dem Józef Tischner-Institut Kraków und der Fakultät für Humanwissenschaften der Prager Karls-Universität im Juni 2009 in Dresden veranstalteten und von der Robert Bosch Stiftung finanziell unterstützten Tagung vor.

Einleitend beziehen sich die Herausgeber auf die verhängnisvolle Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, in die die thematisierten drei Autoren existentiell, bis zu Verfolgung und zum Martyrium, hinein verwebt waren und damit auf das Rätsel des Anderen verweisen: „Über Gemeinsamkeiten vertieft nachzudenken und Wege zu weisen, durch Erkennen und Anerkennen des Anderen Möglichkeiten zu erschließen, die an die Utopie einer nicht-repressiven Gemeinschaftsform heranführen, ist ein charakteristisches Merkmal europäischen Denkens vor dem Hintergrund der Verwüstungen, die insbesondere die totalitäten Regime des 20. Jahrhunderts und ihre unmittelbaren Vorläufer hinterließen“ (ix). „Alterität“ soll als ein schon bei Nikolaus Cusanus, Amos Comenius und Leibniz angelegter Wesenszug europäischen Denkens im Zuge der Phänomenologie als gewissermaßen Drittes dazu beitragen, die herkömmlichen Spannungen zwischen Dogmatismus und Relativismus, sowie zwischen Idealismus und Realismus fruchtbar zu überwinden. Dies wird von Hans Rainer Sepp (Prag) im Epilog des Bandes zusammenfassend und mit weiteren Bezügen (u.a. auf Michel Henry) als Erkenntnisgewinn festgehalten.  Im von Walter Schweidler (Eichstätt) verfassten Prolog wird „der Andere als Grund und Grenze des Denkens“ bezeichnet und als schlüsselhafter Beitrag zur Überwindung der vom cartesianischen cogito geprägten neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie  erkannt. Der Andere ist dabei nicht etwa Gegenstand des Denkens, sondern dessen „uneinholbare, aber sinnstiftende Grenze selbst“ (7). Zugang zur fremden Subjektivität ermöglicht die Objektivität der Intersubjektivität. Mit Martin Buber und Gabriel Marcel, an die sich Levinas mit dem „Antlitz des Anderen“ anschließt, bestimmt Schweidler das Wesen des Denkens als Antwort auf einen verbindlichen und Unendlichkeit evozierenden Anruf, der nicht im Denkenden selbst einzuholen ist.  

 

Sechzehn Beiträge internationaler Autoren widmen sich speziell Edith Stein und markieren damit ihren Status als eine den innerchristlichen oder innerkirchlichen Raum weit überschreitenden phänomenologischen Denkerin. Es hat sich gerade um den Dresdener Lehrstuhl eine Junge Forschung zu Edith Stein etabliert, die neue und „andere“ Sichtweisen ansetzt. Erwähnt sei stellvertretend der Aufsatz „Geborgenheit statt Geworfenheit“ von Lidia Ripamonti zum Verhältnis Edith Steins zu Martin Heidegger. Harald Seubert (Posen/Erlangen) behandelt perspektivenreich (auch mit Bezug auf Benedikt XVI.) das Verhältnis von  „Glauben und Wissen“ bei Edith Stein und Emmanuel Levinas, die Dresdener Lehrstuhlinhaberin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz vergleicht die beiden Denker jüdischer Herkunft unter dem Titel „Von andersher zu beziehende Fülle“. Während Levinas in der intersubjektiven Relation das sich durch den Anderen „in-Geiselhaft-nehmen-lassen“ betont, sieht Edith Stein mehr das freie „sich-geben“, das (wie bei ihr am Ende geschehen) bis zum stellvertretenden Opfer reichen kann.  Sechs Aufsätze befassen sich weiter mit Levinas, darunter einer unter dem Titel „Inkarniertes Denken“ zu den ethischen Implikationen der Elternschaft als „generativer Erfahrung“ (Tatiana Shchyttsova, Vilnius). René Kaufmann (Dresden) untersucht politische Implikationen bei Levinas („Transzendenz und Gemeinsinn“) und Michael Staudigl (Wien) reflektiert kritisch Interkulturalität  im Vergleich mit Jacques Derrida.

Schließlich behandeln fünf Autoren den polnischen Priesterphilosophen Józef Tischner, den temperamentvollen „Kaplan der Solidarnosc“, bekannt durch sein Werk „Ethik der Solidariät“ (1981) und seine phänomenologischen Studien „Das menschliche Drama“ (München 1989), in seiner südpolnischen Heimat auch als Verfasser einer Philosophiegeschichte „po góralsku“ (für Bergbewohner der Beskiden). Der Pole Adam Hernas vergleicht den Anderen in der Perspektive des Verrats bei Tischner mit der Sichtweise seiner Tötung bei Levinas. Bedrohungen durch den Totalitarismus und die Erfahrung des „dunkleren“ Gesichts des Anderen prägen Tischners philosophische Wahrnehmungen und führen ihn zu radikaler Ideologiekritik (Zbigniew Stawrowski, Warschau). Ludger Hagedorn (Stockholm) schreibt über „Wahrheit und Lüge im wieder moralischen Sinne“, die in der „dramatischen“ Auslegung Tischner ihre von Nietzsche destruierte Bedeutung neu erhalten. Der Zusammenklang von Metaphysik und Anthropologie bei Tischner und Karol Wojtyła sowie deren unterschiedliche Ansätze werden von Christoph Böhr (Trier) kenntnisreich analysiert.

Dies ist nur ein Ausschnitt aus der angebotenen inhaltlichen Fülle des Dresdener Sammelbandes. Er wird für die weitere Selbstvergewisserung des europäischen Geistes im 21. Jahrhundert wichtige Impulse geben und für die künftige wissenschaftliche Befassung mit Edith Stein, Emmanuel Levinas und Józef Tischner als den Repräsentanten einer „Phänomenologie des Anderen“ unverzichtbar sein. Die Lektüre kann den Leser, die Leserin, reich beschenken – zumal wenn sich die Wahrnehmung und das Bedenken des Anderen gnadenhaft auch ins Gebet öffnet.

 

 

 

 

Europäische Menschenbilder

 

 

(Erste Dresdener Europatagung 2008)

 

 

 

    „Wenn wir es innerhalb von zehn Jahren nicht schaffen, Europa eine Seele zu geben, eine Spiritualität und einen Inhalt, dann ist das Spiel aus.“, hat Jacques Delors der Europäischen Union in den neunziger Jahren ins Stammbuch geschrieben. Die Diskurse über Europa gestalten sich bislang zu einseitig nach wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Gesichtspunkten, so sehr diese auch durchaus die Identität betreffen können. Europa präsentiert sich vordergründig und damit einen Euroskeptizismus fördernd immer noch mit einem endlosen Ratifizierungsprozess, mit blau-gelben Fahnen, Fangquoten, Gurkenkrümmungen und Übungen in gender-correctness. Aber es scheint, dass seine „Seele“ sich langsam in bisher ungekannter Vitalität zu rühren beginnt, so exemplarisch auf einer großangelegten internationalen Tagung des Lehrstuhls für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaft der TU Dresden und der Fakultät für Humanwissenschaften der Prager Karls-Universität zum Thema „Europäische Menschenbilder“ im April 2008 in Dresden unter der Schirmherrschaft des damaligen sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt. Inzwischen ist der beeindruckende Sammelband mit den Referaten der von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Dresden), Hans Rainer Sepp (Prag) und Christoph Böhr (Trier) initiierten Tagung erschienen:

 

 

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Susan Gottlöber, René Kaufmann und Hans Rainer Sepp (Hg.), Europäische Menschenbilder, Thelem Verlag Dresden 2009, 486 Seiten, 49.80 €, ISBN 978-3-939888-50-5

In Zeiten der Globalisierung scheint das Thema „Europäische Menschenbilder“ zunächst als eine Beschränkung, aber die behandelte Vielfalt widerlegt derlei Bedenken und öffnet sich einer am europäischen Humanismus („Menschenrechte“) orientierten  Universalisierung. Die innereuropäischen Differenzen und Gemeinsamkeiten können, vergleichbar der viersprachigen Schweiz, ein Modell global-interkontinentaler Beziehungen hergeben. In der im Tagungsband leider nicht wiedergegebenen Begrüßungsansprache erwähnte die Dresdner Lehrstuhlinhaberin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz zunächst, dass „Europa“ als so genanntes „Abendland“ keine Eigenkreation sei, sondern sich einer semitischen Perspektive („erev“ = „Abend“) verdanke. Eine phönizische Königstochter, in die Fremde entführt von einem Stier, ein „Mythos von Liebe und Gewalt“, markiere den Anfang des Vielvölkerkontinents. Die Tagung betreibe jedoch keine „museale Geschichte“, sondern wolle dazu beitragen, „Tradition neu anzueignen und für künftige wissenschaftliche und politische Praxis zu öffnen“.

 

 

 

    Von den bestens bearbeiteten (mit knappen Zusammenfassungen versehenen) Vorträgen, die gleichsam ein Füllhorn an hochgradiger Reflexion bieten, können hier nicht alle näher angesprochen werden. Der erste Abschnitt „Europa im Kontext der philosophischen Anthropologie“ (1-104) beginnt daher mit dem allgemein gehaltenen Referat des Prager Dekans (und Kandidaten für das Amt des tschechischen Staatspräsidenten im Jahr 2003) Jan Sokol über den Zusammenhang von Menschenbildern, Sprache und Sprachen (3-10). Der „Logos“ artikuliert sich nicht abstrakt oder in einer Einheitssprache, sondern im jeweiligem Idiom, das dann von je anderer Sprache auch als „barbaros“ (griechisch: Stotterer) oder „nemec“ (slawisch: stumm) wahrgenommen wurde. Die Bindung des Menschenbildes an konkrete Sprachen macht erst intensive Kommunikation in einer Gemeinschaft möglich, erweckte jedoch auch die verhängnisvollen Nationalismen des 19. und 20. Jahrhunderts. Europa ist kein „Melting-Pot“, sondern müsse seine Sprachverschiedenheiten bestehen lassen, die positiv genutzt zu Kreativität, Vielfalt und Produktivität führen können. Daher sei ein einheitlicher „Superstaat Europa“ ausgeschlossen und nur eine föderative Verfassung erlaubt. Sokol bringt bewusst oft vernachlässigte tschechisch-slawische Identitätserfahrungen, die bis auf Jan Hus und die Gründung Russlands zurückverfolgt werden könnten, in den europäischen Diskurs, der sich lange zu sehr nur auf Athen, Rom und Jerusalem beschränkte. Thomas Rentsch, Philosophieprofessor an der TU Dresden, thematisiert in seinem Beitrag „Rationalität, Negativität, Transkulturalität“ (11-22) grundlegende anthropologische Unterscheidungen der europäischen Philosophiegeschichte: Vernunft und Verstand, sokratisch-cusanisches  Nichtwissen, Dialog und Dialektik, Freiheit und Selbstbestimmung, sowie den unendlichen Wert des singulären Individuums. Diese seien auch für Neuzeit und Moderne konstitutiv und für die Zukunft weltgeschichtlich bedeutend. Es gehe dabei um die bleibende kantische Grundfrage: „Was ist der Mensch?“. Der Dresdener Soziologe Karl-Siegbert Rehberg sieht daran anknüpfend europäische Pluralität als Schicksal und Chance, einen „okzidentalen Rationalisierungsprozess“ (Max Weber) in Gang zu bringen und so zu einem Kontinent des „Ausgleichs“ (Max Scheler) zu kommen (23-35). Joachim Fischer (Bamberg) erblickt in der modernen philosophischen Anthropologie, besonders bei Helmut Plessner, neue und tragfähige Begründungen für die durch die Erkenntnisse der darwinschen Evolutionsbiologie gefährdete „Sonderstellung des Menschen“. Diese sei einer Antwort auf die Herausforderung Darwins durch den Rekurs auf die Schöpfungstheologie überlegen (37-51). Tatiana Sedová (Bratislava) reflektiert die Übertragbarkeit kultureller Erfahrungen in besonderem Hinblick auf Claude Lévi-Strauss (55-69), Christian Thies (Hannover) befasst sich mit den diversen Bildern Europas „von außen“ (71-82) und stellt u.a. den Vergleich des „amerikanischen Traums“ mit dem „europäischen Traum“ bei Jeremy Rifkin vor. Die irische Edith Stein-Forscherin Mette Lebech präsentiert Gedanken über „four competing conceptions of human dignity in Europe“ (83-92). Der Fundamentaltheologe Michael Gabel (Erfurt) schildert die Ausblendung menschlicher Differenzen als Kennzeichen nationalsozialistischer und kommunistischer Ideologien, die einen angeblich „neuen Menschen“ planen wollten. Dabei orientiert er sich an Gottfried Küenzlens gleichnamiger Untersuchung. Das Gegengewicht der Betonung der Differenz liefert die Dichtung, wie am ostdeutsch-böhmischen Autor Franz Fühmann ausgeführt wird (93-104). Im Anschluss an die johanneische Perikope der Ehebrecherin (Joh 8, 1-11) formuliert Gabel schließlich: „Scham ist die Fähigkeit, Differenzen anzuerkennen und sie als Ruf in die Verantwortung zu verstehen. Sie ist zugleich die Fähigkeit zur schmerzvollen Einsicht in falsche Selbstüberschreitungen. Scham, Buße, Reue, das sind die konkreten Heilungskräfte, die einzig Zukunft und die Menschlichkeit jedes Menschenbildes garantieren“ (102f).

 

 

 

    Der zweite Abschnitt des Sammelbandes behandelt „Bilder vom Menschen in politisch-sozialen Perspektiven“ (105-274). Regional-europäische Kontexte von Spanien (Javier San Martín) bis Weißrussland (Tatiana Shchyttsova) kommen zur Sprache. Grundlegende geschichtliche Linien zieht der Aufsatz „Homo politicus europaeus“ (107-117) des italienischen politischen Philosophen Michele Nicoletti (Trient). Der Mitorganisator der Tagung und bekannte CDU-Politiker Christoph Böhr (Trier) orientiert seine Überlegungen aus der Sicht der politischen Philosophie über „das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft“ (119-131) an Immanuel Kant, der sowohl eine Politik des „moralischen Pluralismus“ (Norbert Hinske), als auch – entgegen aller Vorurteile über den angeblichen „Zertrümmerer der Metaphysik“ – eine metaphysisch gegründete Anthropologie ermöglicht hat. Dabei findet Böhr eine erstaunliche Nähe des kantischen Person-Konzepts zu demjenigen von Karol Wojtylas „Person und Tat“. Die Frage, was der Mensch ist, kläre sich letztlich erst über die (auch religiöse) Frage, was er hoffen darf (130). Walter Schweidler (Bochum) schaut in seinem Beitrag auf den Mensch als „Bürger“ in der Spannung zwischen einer ethischen „Normkultur“ und einer zum Relativismus neigenden „Nutzenkultur“ (147-154). Hier stehen verschiedene europäische Menschenbilder im Gegensatz zueinander und erfordern eine klare moralische Entscheidung, besonders in den Konflikten um Abtreibung und Euthanasie. Dies wird noch konkretisiert im Aufsatz des Neutestamentlers Peter Wick (Bochum) zum Problem des europäischen Geburtenmangels als „Symptom eines defizitären Menschenbildes“ (155-165). Die vormals allgemein anerkannte menschliche Fruchtbarkeit wird zunehmend entwertet. Mütterlichkeit stört die Dominanz der durch die Aufklärung allem anderen vorgeordnete Vernunft (ratio). In der neueren Literatur seit dem 18. Jahrhundert wird die Mutter durch die kinderlose Geliebte verdrängt, wie auch Frank Schirrmacher in „Minimum“ beobachtet habe. Im gesellschaftlichen Wettbewerb um „Ehre“ spielt menschliche Fruchtbarkeit kaum eine Rolle, Kinderreichtum gilt als „Kuriosum“ (159). Diese Verdrängung hat auch die Theologie erfasst, die kaum noch den biblischen Schöpfungsauftrag des „seid fruchtbar und mehret euch“ (Gen 1, 27f) thematisiert. Es geht nicht um einen Mutterkult diverser Nationalismen, sondern um einen Mentalitätswandel, der gesellschaftliche Ehre und Fruchtbarkeit wieder miteinander verbindet. Dies könnte auch einer kulturellen Beeinflussung durch den sehr differenziert zu sehenden Islam Widerstand leisten. Dessen angebliche Friedfertigkeit im interreligiösen Dialog Spaniens unter der arabischen Herrschaft bezeichnet Johannes Thomas (Paderborn) in seinem kenntnisreichen Beitrag „Al-Andalus“ (249-262) über christlich-islamische Synkretismen als „Legende“ und „Märchen“ (249). Polnisches zum Selbstbild vom Menschen aus Schriften Nietzsches und dem Umkreis der Phänomenologie präsentiert Andrzej Gniazdowski (Warschau) unter dem Titel „Politisches Atlantis Europa“ (203-215).

 

 

 

     Der dritte Abschnitt widmet sich einigen „philosophischen Aufnahmen vom Antlitz Europas“ (275-445). Darin finden sich Menschenbild-Studien zu Boethius (Balázs M. Mezei, Budapest), dem spanischen Humanisten Juan Luis Vives (Michael Spang, Dresden), Johann Georg Hamann (Thomas Brose, Berlin), Fichte (Karl Hahn, Münster), Karl Jaspers und Hannah Arendt (Jean-Luc Garret, Bordeaux), Eugen Fink (Marcia Sá Cavalcante Schuback, Stockholm) und Jan Pato?ka (Martin Cajthaml, Olomouc/Brno). Mit dem Antinaturalismus und dem Existentialismus von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir befassen sich ohne Polemik und in selbstkritischem Feminismus Yvanka B. Raynova (Sofia/Wien) und Susanne Moser (Wien). Letztere kommt gegen Beauvoir zur Einsicht, „dass es eines umfassenderen Konzeptes bedarf als desjenigen, das sich allein an Freiheit und Autonomie orientiert. Diesem muss ein Menschenbild zugrunde liegen, welches die Würde des Menschen auch dann garantiert, wenn eine Leistungserbringung nicht oder nicht mehr möglich ist“ (398). 

 

 

     René Kaufmann (Dresden) formuliert im Rahmen seines Dissertationsprojektes Gedanken, die von einer Theodizee- über eine Anthropodizee- zur Noodizee-Problematik führen (301-311). Nicht mehr Gott, sondern der Mensch oder seine Vernunft sitzen auf der Anklagebank. Die „Historisierung des Menschen“ im Zuge der Aufklärung beschreibt der Dresdener Philosoph Johannes Rohbeck (313-322). Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, die Inhaberin des die Tagung ermöglichenden Lehrstuhls, widmet sich im wohl dichtesten Aufsatz des Bandes einer „europäischen Kultur der Vergebung von Derrida zu Schestow“ (423-434). Damit ergänzt sie ihr seit kurzem vorliegendes an Vladimir Jankélévitchs Essay „Pardonner?“ anschließendes Werk „Verzeihung des Unverzeihlichen?“ (Wien u.a. 2008) sozusagen in „östliche Richtung“. Verzeihung, die sich nach Derrida stets auf Unverzeihliches (was denn sonst?) bezieht, wird nicht aufgrund von Reue gewährt, sondern macht als bedingungslose „Absolution im Absoluten“ diese zur Folge. Zwischen Opfer und Täter bedarf es eines „Dritten“, wenn Rache nicht das letzte Wort sein soll. Gerl-Falkovitz stellt die Frage: „Wie also kann Vergebung gegen Zeit, diachron, in jenem ‚Dritten’ vollzogen werden? Die Frage ist entscheidend, um mit der europäischen Unheilsgeschichte des 20. Jahrhunderts auch als Nachgeborene umgehen zu können“ (426). Der „verzeihende Blick“ (Kierkegaard), der Vergeben mit Vergessen verbindet, führt nach Leo Schestow zur Annihilation des Bösen, zur Aufhebung des griechisch-linearen Zeit- und Realitätsverständnisses, das keinerlei Faktizität und damit keine Anklage aufzuheben versteht. „Remissio“ als Teil der kirchlichen Absolutionsformel bedeutet allerdings anders als Schestows „Löschung der Geschichte“ wörtlich „Rücksendung“ von Schuld, Entmachtung des Bösen, nicht dessen Ungeschehenmachen oder Kleinreden (429). Vergebung als „Gabe“ eines Dritten ist verknüpft mit deren „von vornherein exzessiven, a priori übertriebenen Natur“ (Derrida).

 

 

 

    Der Tagungsband schließt mit einem bilanzierenden Epilog „Europa oder: Vom Nutzen der Philosophie“ (449-463) des Prager Gelehrten (und Direktor des Eugen Fink-Archivs Freiburg) Hans Rainer Sepp. Er sieht die Philosophie als eine Disziplin in mehreren Umbrüchen, ihr erster Nutzen besteht in der Differenz und (mit Jan Pato?ka) der Bereitung von „Erschütterung“ (452ff). Umsturzpotential, so Sepps These, liegt bereits in den Anfängen der europäischen Philosophien, die stets auch offen für kulturelle Brüche (wie etwa die Renaissance) sein musste und mehrere Ethosformen (und ihre Reflexionsweisen) als Bausteine europäischer Welten ausgebildet hat. Mit Max Scheler spricht Sepp vom „Ausgleich“ durch Kooperation verschiedener Regionen und Epochen unter Beibehaltung der Differenzen. Dies wäre dann – Hegel hätte es Vermittlung genannt – der letzte Nutzen der Philosophie.

 

 

    Der Band mit den Referaten der Dresdener Tagung zeigt, dass jenseits des Postsäkularen oder Postmodernen und ohne ideologische Vorgaben über „Europäische Menschenbilder“ international auf höchstem Niveau debattiert werden kann. Fortgeführt und konkretisiert wurde die Thematik bereits im Juni 2009 mit einer weiteren Tagung des Dresdener Lehrstuhls (diesmal in Zusammenarbeit mit dem Józef Tischner-Institut Kraków) unter dem Titel: „Europa und seine Anderen. Edith Stein – Emmanuel Lévinas – Józef Tischner“. Auch hier darf man sicher bald einen gehaltvollen Tagungsband erwarten. Das Gespräch über und mit Europas geistigen Grundlagen muss weitergehen und neue Dynamik gewinnen.     

 

 

Rezension von Dr. Stefan Hartmann (Oberhaid), veröffentlicht in: "Die Neue Ordnung" 63 (4/2009), 307-311