Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert

 

In Deutschland (wie auch in der Schweiz und Österreich) fehlt es trotz bedeutender Einzelner im 20. Jahrhundert an einer alle überragenden katholischen geistigen Figur wie es Paul Claudel für Frankreich oder Gilbert K. Chesterton für den angelsächsischen Bereich ist. Aber ein katholischer deutscher Intellektueller des 20. Jahrhunderts, der zuvor über zwei Jahrzehnte die römische Glaubenskongregation leitete und dieses Amt mit der erbetenen Erlaubnis antrat, auch weiterhin wissenschaftlich und publizistisch tätig sein zu dürfen, ist seit dem 19. April 2005 als Papst Benedikt XVI. Inhaber des höchsten Amtes in der katholischen Kirche. Auch als solcher veröffentlicht er mit Zufügung seines bürgerlichen Namens Joseph Ratzinger ein auf zwei Bände angelegtes Werk „Jesus von Nazareth“ (Freiburg 2007), das „in keiner Weise ein lehramtlicher Akt ist, sondern einzig Ausdruck meines persönlichen Suchens ‚nach dem Antlitz des Herrn‘ (vgl. Ps 27,8). Es steht daher jedermann frei, mir zu widersprechen“ (ebd. 22). Vor dem Hintergrund dieses offenen Selbstverständnisses und des kirchengeschichtlichen Ereignisses der Papstwahl eines großen deutschen Theologen ist es besonders lohnend und reizvoll, den maßgeblichen „katholischen“ Menschen des Geistes, des Wortes und der Kunst aus dem deutschen Sprach- und Kulturraum des 20. Jahrhunderts nachzugehen. Dabei wird die besondere Lage des Landes der Reformation und der Prüfungen durch die Zeiten des Totalitarismus immer mit im Hintergrund stehen. Der Publizist Hans-Rüdiger Schwab (Jg. 1955), Professor für Kulturpädagogik (Ästhetik und Kommunikation) an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster, hat sich als Herausgeber der Mühe unterzogen, dazu in einem ersten großen Band neununddreißig – „unbeabsichtigt die Zahl der alttestamentlichen Bücher“ (25) – repräsentative Gestalten auszuwählen und von ausgewiesenen Kennern darstellen zu lassen. Nur in einem, allerdings bezeichnenden und später zu erwähnenden Fall ist ein Missgriff passiert mit einem der „Empathie“ unfähigen Autor. Es handelt sich um in der Reihenfolge ihres Geburtsjahres dargestellte katholische Laien (Ausnahme sind die Karmelitin Edith Stein und der laisierte Priester Joseph Bernhart), die sich aber oft von intellektuell anregenden Priestern und Seelsorgern, hier ist an erster Stelle Romano Guardini (1885-1968) zu nennen, prägen ließen. Ein zweiter Band mit geistigen Repräsentanten unter den Bedingungen des theologischen und kirchlichen Amtes soll folgen. Zehn der Porträtierten leben und wirken noch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Der Band ist in unbewusster Anlehnung an ein von Hermann Hesse öfter verwandtes Wort mit „Eigensinn und Bindung“ überschrieben, wobei der zweite Begriff sowohl die allgemein religiöse als auch die konkret katholisch-kirchliche Bindung anspricht:

Hans-Rüdiger Schwab (Hg.), Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert. 39 Porträts, Kevelaer (Butzon & Bercker) 2009, 812 Seiten

Der Herausgeber eröffnet den Reigen der mit ausführlichen Literaturangaben und Anmerkungen versehenen Porträts mit der Einleitung „Kurzer Versuch über katholische Intellektuelle“ (11-26). Diese definieren sich, wie er an anderer Stelle einmal ausführte, „aus der Teilnahme an einer religiösen und kulturellen Praxis. Ihre Inspiration resultiert aus einer als verpflichtend empfundenen Überzeugung; mehr noch: Katholische Intellektuelle sind ohne diesen Glutkern nicht zu denken. (...) Sie sind gläubig – oder versuchen es wenigstens zu sein, aller geistigen Anfechtungen ungeachtet“ (780, Anm. 4). Zu diesen Anfechtungen bei manchen katholischen Intellektuellen gehören nicht nur Konflikte mit dem kirchlichen Amt oder Strömungen des Zeitgeistes, sondern auch eine spezifische „Melancholie“ (so kürzlich Kurt Anglet im Blick auf Reinhold Schneider) oder eine „habituelle Schwermut und Versehrtheit, die eines der wertvollsten Zeugnisse dieses Typus darstellt“ (21). Illustrieren kann dies die von Schwab zitierte sarkastische Selbstironie eines Heinrich Böll, der einmal sagte: „Wenn es für einen Deutschen schon nicht leicht ist, Intellektueller zu sein, so ist es, wenn er außerdem noch Katholik ist, doppelt unangenehm“ (17). Die Selbstkennzeichnung als Intellektueller stammt eher aus dem Französischen (Jean-Paul Sartre warf das Wort in die Debatte), viele der Gekennzeichneten würden es nicht auf sich anwenden, es ist ein nicht unproblematischer Begriff wie etwa in den Artikeln über Böll (mit Hinweis auf Helmut Schelskys nicht unberechtigte damalige Kritik „Die Priesterherrschaft der Intellektuellen“), den Schweizer Soziologen Franz-Xaver Kaufmann und den „intellektuellen Täter“ Rupert Neudeck deutlich wird. Der Band hat kein einheitliches Verständnis des katholischen Intellektuellen, er kann es wohl auch nicht haben, aber unfair und in der Form geradezu beleidigend ist es, wenn in einem Porträt, dem von Ida-Friederike Görres (301-322), der Verfasser (Jean-Yves Paraïso) aufgrund von Voreingenommenheit die Intellektualität einfach abspricht. Schade, dass der Herausgeber dies durchgehen ließ, gehört doch für ihn zum Hintergrund des katholischen Intellektuellen „nicht nur das Bekenntnis zu religiösen Maßstäben, die er nicht selbst erfindet, denen er sich vielmehr anschließt, sie aber individuell verantwortet, sondern auch eine institutionelle Beheimatung“ (16). Es braucht eben den Wurzelgrund des sentire cum ecclesia (ebd.), auch wenn dies ein Leiden an der Kirche in ihrer irdischen Gestalt einschließt (wie es gerade Ida Friederike Görres in ihrem „Brief über die Kirche“ von 1946 zum Ausdruck brachte).

Hier soll nun in Kürze ohne letzte Wertung die Reihe der von Schwab ausgewählten Frauen und Männer nicht chronologisch wie im Buch, sondern nach den Schwerpunkten ihrer Aktivitäten vorgestellt werden: Publizisten und politisch Reflektierende, Philosophen und Schriftsteller. So entsteht ein erstaunliches Panorama der neueren Geistesgeschichte des Katholischen unabhängig von irgendwelchen Milieus und abseits des im engeren Sinne Theologischen. Es begegnen Bekenner und Suchende, Zeugen und Zweifler, mit sich und der Kirche Versöhnte und innerlich oft Zerrissene.

 

 

Publizisten und politisch Engagierte

Das „freie Wort in der Kirche“ war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer klerikal unter dem Einfluss eines strengen römischen Neuthomismus regierten Kirche noch ein Wagnis und Risiko, das zu Zensurmaßnahmen führen konnte. Trotzdem gewann die Kirche gerade unter dem Pontifikat Pius‘ X. neue Attraktivität und bedeutende Konvertiten auch in Deutschland. Karl Muth begründete 1903 die katholische Kulturzeitschrift „Hochland“ und war bis 1941, als ihr Erscheinen verboten wurde, ihr Herausgeber. So bildete er ein Forum und ein Fundament für viele neue Autoren und Strömungen des modernen Katholizismus. Unter den seit 1933 erschwerten Bedingungen bewahrte Muth seine Zeitschrift vor Gleichschaltung und betrieb in „innerer Emigration“ mit seinen Autoren geistigen Widerstand gegenüber dem Nationalsozialismus, u.a. durch eine christliche Interpretation des Reichsgedankens (29-45). Der weniger bekannte Jurist Adolf ten Hompel engagierte sich gegen die damalige kirchliche Bücherzensur und geriet in Modernismusverdacht. Später ließ er sich von nationalistisch-völkischen Ideen mitreißen und wurde Nationalsozialist mit zunehmend antirömischer Agitation. Die Ernennung von Clemens August Graf von Galen zum Bischof von Münster versuchte er zu verhindern. Seine Biographie ist zeitgeschichtlich und für die Modernismusforschung interessant. So haben (wie schon Thomas Ruster nachgewiesen hat) viele deutsche „Modernisten“ mit dem damaligen Zeitgeist sympathisiert. Es ist jedoch ein bedauerlicher Fehlgriff, einen vom Katholizismus abgefallenen Nazi wie ten Hompel in die Reihe so vieler integrer Persönlichkeiten aufzunehmen (87-98). Ganz anders verhielt sich der Konvertit Theodor Haecker, der Publizist, Kultur- und Geschichtsphilosoph in einem war und sich vor allem im „Hochland“ und in Ludwig von Fickers „Brenner“ zu Wort meldete. Hildegard K. Vieregg schildert seine von der Vermittlung Kierkegaards und Newmans geprägte christliche Existenz im totalitären Staat und erwähnt die Verbindungen zum Widerstandskreis der „Weißen Rose“ um Kurt Huber und die Geschwister Scholl. Seine nun auch kritisch edierten „Tag- und Nachtbücher“ bleiben ein Zeugnisbuch innerer Emigration (117-135). In eigener Weise „katholisch“ und öffentlichkeitswirksam war der international berühmt-berüchtigte Rechtsgelehrte und Autor einer „politischen Theologie“ Carl Schmitt. Auf ihn geht das Wort vom „antirömischen Affekt“ zurück, das er aber im Sinne des von Papst Pius XI. verurteilten „katholischen Atheisten“ Charles Maurras (dem auch die Piusbruderschaft nahe steht) deutet. Seine manchmal manichäischen Visionen und zwischenmenschlichen Schändlichkeiten werden von Jürgen Manemann kenntnisreich ins Wort gebracht (215-232). Als nächstes finden die in ihrer Einstellung und ihren christlich-sozialistischen Anliegen verwandten Publizisten Walter Dirks, der Begründer der „Frankfurter Hefte“, und Eugen Kogon, der Verfasser des bekannten Buches über den „SS-Staat“, eine wohlwollend-faire Würdigung (323-338; 363-375). Die gebürtige Mönchengladbacherin Vilma Sturm behandelt der Herausgeber selbst. Aus der Angefochtenheit in der Hitlerzeit (der Anschluss Österreichs bewegt sie „zu Tränen“, peinliche Gedichte folgen) rettet sich die 1995 in Bonn verstorbene Autorin, Journalistin und Aktivistin in den Einsatz für die Ökologie und die Friedensbewegung (469-483). Sie wird am Ende ihres Lebens immer skeptischer und meint: „Die meisten linken Katholiken in meinem Umkreis waren nur noch Linke, keine Katholiken mehr“ (480). Mehr Publizist als Wissenschaftler ist auch der einzige Vertreter Österreichs im Sammelband, der geistesgeschichtlich engagierte und auch umstrittene Katholik (und Hitler-Biograph) Friedrich Heer, dessen Fixierung auf „Kommunikation“ leider unkritisch nur wenig differenziert dargestellt wird (487-509). Große Verdienste im Blick auf Medienanalyse (vor allem des Fernsehens, weniger des Internet) muss man dem langjährigen Mitarbeiter und Herausgeber der Wochenzeitschrift „Rheinischer Merkur“, dem Kommunikationswissenschaftler Otto B. Roegele, bescheinigen. Er sieht in den Massenmedien die Gefahr der „Neophilie“ mit einer permanenten normativen Entstabilisierung der Gesellschaft (533-543). Carl Amery (eigentlich heißt er Christian Mayer), der 1972 im Gefolge der Analysen des „Club of Rome“ das Buch „Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums“ veröffentlicht, greift die ökologische Herausforderung auf und gehört zu den Mitbegründern der „Grünen“. Als Kirchenkritiker mit apokalytisch-endzeitlichen Betonungen bleibt er dennoch dem Glauben verbunden und kann auch einen Roman über „Wallfahrer“ schreiben (547-563). Ernst-Wolfgang Böckenförde, der häufige Berater der Deutschen Bischofskonferenz und Verfasser des Aufsehen erregenden Aufsatzes „Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933“, gilt als einer der profiliertesten Staatsrechtler in Deutschland (599-613). Er stand in engem Kontakt zu Carl Schmitt (!), was seine Aversion gegen das Naturrecht erklären könnte. Seine Interpretation der konziliaren Erklärung zur Religionsfreiheit als „Bruch“ mit der Tradition fand kompetenten Widerspruch durch den dominikanischen Sozialethiker Arthur F. Utz (610). Der einzige Schweizer des Bandes, der in Zürich geborene Franz-Xaver Kaufmann, hat seinen beruflichen Schwerpunkt in Deutschland (Universität Bielefeld), wo er ebenfalls diverse Kommissionen der Deutschen Bischofskonferenz berät. Seine sozialwissenschaftlichen Analysen widmen sich besonders Problemen des Sozialstaats, der Familie und schließlich der Demographie (633-643). Der Journalist Michael Albus beschreibt den Lebensweg von Rupert Neudeck, den Begründer des „Komitee Cap Anamur“, das Flüchtlingshilfe leistet, und der „Grünhelme“, die als Christen und Moslems gemeinsame Sozialarbeit auf den Weg bringen wollen (647-661). Viele Jugendliche erkennen in ihm (wie in den 1950er Jahren in Albert Schweitzer) ein Vorbild. Der gebürtige Freiburger Hans Maier ist nicht nur publizistisch und politikwissenschaftlich aktiv, sondern bekleidete auch lange Jahre das politische Amt des bayerischen Kultusministers und stand als ZdK-Präsident fünf Katholikentagen vor. Heinrich Oberreuter schildert den herausragenden „catholic man“ mit musischen und künstlerischen Neigungen, der noch den Münchener Guardini-Lehrstuhl innehatte und immer neu wegweisende Publikationen anbot, zuletzt über „politische Religionen“ (617-630). Auch Kontroversen (teilweise Missverständnisse) mit Bischöfen und Päpsten kommen zur Sprache. Bei der von Schwab vollzogenen Weite der Auswahl hätten noch der Wirtschaftswissenschaftler Götz Briefs, der Biograph Curt Hohoff und der bekannte Publizist Joachim Fest Beachtung verdient, auch wenn ihnen trotz ihrer Katholizität kein „Stallgeruch“ anhaftet.

 

 

Schriftsteller und Künstler

Niemand wird Hugo von Hoffmansthal, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl oder Stefan George als „katholische Schriftsteller“ vereinnahmen wollen, dennoch ist bei Ihnen der Bezug zum Religiösen auch in seiner kirchlichen Form unübersehbar, und sei es nur in der Verbindung mit dem Mittelalter oder dem mönchischen Leben. Dasselbe gilt verschärft in ihrer Kirchenpolemik von den Österreichern Thomas Bernhard und Peter Turrini, die genauso wenig wie die beeindruckenden „Spätkonvertiten“ Alfred Döblin oder Ernst Jünger Aufnahme in den Band fanden – wofür man Verständnis haben kann. Aber auch diejenigen, die sich zu ihrer katholisch-kirchlichen Identität bekennen, wollen in erster Linie Dichter und Künstler (weniger „Intellektuelle“) sein. Als Luise Rinser bei einem literarischen Treffen von Marcel Reich-Ranicki etwas spöttisch mit „da kommt ja unsere katholische Schriftstellerin“ begrüßt wurde, konterte sie schlagfertig: „ach, wie ich mich freue, unsern jüdischen Publizisten wiederzusehen“. Der Herausgeber selbst beginnt mit der Schilderung der „Katholizität“ der weniger bekannten und nun vielleicht neu zu entdeckenden hellsichtigen Autorin Annette Kolb, die 1967 im hohen Alter von 97 Jahren nach einem Besuch Israels verstarb. Die „Einzelgängerin“ enthielt sich aller Milieus, sah in Katharina von Siena eine Geistesverwandte und entzog sich durch Emigration über Frankreich dem Nationalsozialismus. Sie stand in enger Korrespondenz mit Hans Urs von Balthasar und anderen Theologen und plädierte schon vor der Liturgiereform des II. Vaticanums für die Beibehaltung des traditionellen Messritus (49-66). Die unbestritten größte katholische deutsche Schriftellerin des 20. Jahrhunderts ist die Troeltsch-Schülerin und Konvertitin Gertrud von le Fort, der Alexandra Chylewska-Tölle (Bydgoszcz) unter dem Titel „Zwischen christlicher Moderne und evangelischer Katholizität“ ein knappes und einfühlsames Porträt widmet (101-114). Dem Frankfurter Jesuiten und Byzantinisten Michael Schneider gelingt eine überzeugende Einführung in Leben und zentrale Gedanken des Lyrikers Konrad Weiß (139-152). Die Schöpfung und in ihr die Menschwerdung Gottes bilden für ihn den Urgrund der christlichen Ästhetik, die nach einem Wort Erich Przywaras zwischen „Viehtrog und Kreuz-Galgen“ vibriert. Weiß wird in die Nähe Gerald Manley Hopkins und Reinhold Schneiders gestellt und als letztes mit dem Wort zitiert: „Denn so groß ist kein Mangel wie Gottes Ankunft ...“ (151). Joseph Bernhart ist als katholischer Schriftsteller und Geschichtsdenker unübersehbar, sein autobiographischer Roman „Der Kaplan“ (1919) war ein Bestseller, sympathisch ist seine Einbeziehung der Tierwelt, theologisch nicht unumstritten Schriften wie „Chaos und Dämonie“ (155-171). Erstaunlich ist, dass der „Dadaist“ und Hesse-Biograph Hugo Ball mit aufgenommen wurde. Aber der Hinweis auf seine (von Carl Schmitt intrigant abgelehnte) „Kritik der deutschen Intelligenz“ (nach der Konversion umgeändert in „Die Folgen der Reformation“) darf in einem Buch über deutsche Intellektuelle nicht fehlen. Zudem hat er sich vom Dadaismus ab- und den christlichen Wüstenvätern, insbesondere Dionysios Areopagita, zugewandt (195-212). Werner Bergengruen wäre in der Gegenwart neu zu entdecken. Seine leuchtende Sprache und sein Eingehen auf alle Bezirke menschlichen Daseins ist einmalig und wurde leider in den 1950er Jahren durch Polemik (Adornos vor allem) gegen den Gedichtband „Die heile Welt“ verdunkelt. Wer die Reinheit „innerer Emigration“ verstehen will, sollte sich an den von Thomas Pittrof (Eichstätt) porträtierten großen Balten halten (267-282). Ein oft tragisches Schicksal zwischen den Mühlsteinen des Jahrhunderts hatte die Alzeyerin Elisabeth Langgässer, deren Vater Jude war und die das Erlösungsgeheimnis in ihren Romanen aufscheinen lässt. Daniel Hoffmann sieht in ihrem Werk Spuren, die dem postsäkularen „Bewusstsein von dem, was fehlt“ (Habermas) Inhalte geben könnte (285-297). Reinhold Schneider vermag in die Tiefe christlicher und kirchlicher Geschichtsdramatik einzuführen. Walter Schmitz (Dresden) gelingt ein guter Überblick über das in manchem apokalyptische Züge tragende Werk. Bei der Sekundärliteratur wird Hans-Urs von Balthasars neu bearbeitetes und ergänztes Buch „Nochmals: Reinhold Schneider“ (Freiburg 1991) vermisst (341-359). Stefan Andres‘ Lebenswerk entspricht seinem buntem Lebensgang von der Mosel an den Tiber (395-410). Hier leuchtet immer wieder die Antike auf und Plotin, mit dem er an der Nichtexistenz des Bösen festhält (398). Die Katholizität Andres‘ erscheint am Ende „heterodox“ und mit synkretistischen Elementen vermischt. Auch Luise Rinser führt ein ähnlich geschlungenes Leben und wird nach Rom geführt (449-465). Ihr schriftstellerisches Werk (besonders die Novelle „Geh fort, wenn Du kannst“) ist eindeutig vom Christlichen (Wessobrunn) und von großen Heiligen (Franz von Assisi; Maria Magdalena) inspiriert, aber von einer existentiellen „Bindung“ an die konkrete Kirche berichtet ihr Biograph José Sánchez de Murillo genauso wenig wie von ihren fragwürdigen Veröffentlichungen „Nordkoreanisches Tagebuch“ (1981) und dem indiskreten Briefwechsel mit Karl Rahner unter dem Titel „Gratwanderung“ (1994). Der Nobelpreisträger Heinrich Böll wird von Gerhard Sauder vor allem als Intellektueller beschrieben (513-529). Dazu zählen die Kontakte zum Kölner Prälaten-Milieu um Robert Grosche und die Auseinandersetzung mit dem Soziologen Helmut Schelsky, der ihn „Kardinal und Märtyrer“ nannte und dem Böll 1977 schrieb: „Einer, der (gelegentlich) Romane schreibt, kann nie ganz Intellektueller sein, weil er Konflikte kennt, erkennt und ‚gerecht‘ sein muss“ (525). Mit Günter de Bruyn, dem sich Thomas Brose (Berlin/Dresden) widmet, ist die Biographie eines katholischen Christen und renommierten Schriftstellers aus der ehemaligen „DDR“ im Band vertreten. Die damit verbundenen Zwänge und Aporien werden deutlich aufgezeigt. De Bruyn diagnostiziert die kirchliche Lage nach der „Wende“ nicht nur im Osten mit den Worten: „Was also den Christen weitgehend fehlt, ist ihr sichtbar werdender Wille, sich nicht nur zu behaupten, sondern verlorene Seelen zurückzugewinnen, also, falls das Wort noch erlaubt ist: Mission“ (578). Mehr Literaturwissenschaftler als Schriftsteller ist der von Joachim Hake (Berlin) behandelte Mainzer Dozent und Kirchenlieder-Sammler Hermann Kurzke, der große Studien und Biographien zu Novalis und Thomas Mann verfasste. Er plädiert für eine „zweite Naivität“, in der die Ästhetik und der „Zauber“ des Christlichen wahrgenommen werden kann. Weiterführend wäre hier ein Bezug zur „theologischen Ästhetik“ Hans Urs von Balthasars (665-677). Den Abschluss der Schriftsteller-Porträts bilden die beiden Büchner-Preisträger Martin Mosebach (durch Lorenz Jäger: 697-706) und Arnold Stadler (durch Hermann Weber: 709-723). Beider literarisches Werk befindet sich noch in Entwicklung und gehört bereits ins 21. Jahrhundert. Erfreulich ist, dass Mosebach als profilierter Kritiker der Liturgiereform nicht der Zensur einer „theological correctness“ anheimgefallen ist. Des ehemaligen Priesteramtskandidaten Stadler katholische Herkunft ist evident, jedoch ob sie ihn nicht nur ironisch, sondern auch substantiell beschäftigt, ist noch unklar.

Für die Kategorie eines „geistlichen Schriftstellers“, der auch katholische Intellektualität repräsentieren kann, wird nur Ida Friederike Görres ausgewählt (301-320). Edzard Schaper, der Schlesier Joseph Wittig und die Basler Ärztin Adrienne von Speyr würden noch dazugehören, vielleicht folgen geistliche Priester- und Ordensautoren im Folgeband. Görres kann als „anima ecclesiastica“ angesehen werden und hätte, wie bereits angemerkt wurde, eine fundiertere und weniger abqualifizierende Deutung verdient. Ihr Leiden an Konzil und Synode verdient eine geradezu kirchengeschichtliche Würdigung. Abwegig ist es, ihr den „Blick nach vorn“ abzusprechen (319), zumal die letzte Veröffentlichung vor ihrem Tode (1971) dem visionären Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin als „Sohn der Erde“ galt.

Die bildende Kunst ist nur mit dem Kölner Glasmeister Georg Meistermann („Prophet des Zürnens“: 429-445) vertreten. Hier hätten auch Kirchenarchitekten wie Rudolf Schwarz und Dominikus Böhm, Komponisten wie Max Baumann oder Dramaturgen wie August Everding Berücksichtigung verdienen können.

 

 

Katholische Philosophen

Mehr als Klerikern und Theologen, die stärker durch den bis in die 1960er-Jahre hinein verpflichtenden Thomismus gebunden waren, ist katholischen Laien aufgetragen, sich in Auseinandersetzung mit den philosophischen Zeitströmungen gedanklich zu positionieren. Den Auftakt der Philosophen bildet Max Scheler, den Angelika Sander (Potsdam) mit Fragezeichen als „katholischen Nietzsche“ vorstellt. Seine Konversion (Taufe 1899) zog viele weitere nach sich, auch wenn es wegen seines unsteten Ehelebens 1923 zum Bruch mit der Kirche kam. Edith Stein, die Scheler 1910 in Göttingen erlebte, sieht ihn „ganz erfüllt von katholischen Ideen, für die er mit allem Glanz seines Geistes und seiner Sprachgewalt zu werben verstand“ (72). Seine Analysen über soziologische Fragen, über Werte, „Liebe“, Schamgefühl und Ressentiment bleiben wegweisend. Unerwähnt bleibt, wie intensiv aus phänomenologischer Sicht Karol Wojtyła/Johannes Paul II. sich mit Scheler befasste (69-83). Als Schüler Schelers hat der sympathische Saarländer Peter Wust eine christliche Existenzphilosophie entwickelt, besonders in seinem Hauptwerk „Ungewissheit und Wagnis“ (1937 erschienen), das von Werner Schüßler (Trier) in seinen Grundzügen aufgezeigt wird (175-192). Als Schülerin des Phänomenologen Edmund Husserl philosophiert die große Konvertitin aus dem Judentum, Dozentin, Karmelitin, heiliggesprochene Auschwitz-Märtyrerin und Europa-Patronin Edith Stein, die von der wissenschaftlichen Mitarbeiterin ihrer Gesamtausgabe (ESGA), der im Sammelband ebenfalls aufgenommenen Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Dresden/Erlangen), unter dem Leitwort „Bürgerin Jerusalems in Babylon“ in ihren Gedanken und in der Selbstinterpretation ihres Lebensopfers vorgestellt wird (235-248). Der Bayer Alois Dempf, der 1934 in den Vatikan reiste, um vergeblich das Konkordat zwischen der Kirche und dem nationalsozialistischen Regime zu verhindern, bemühte sich um eine zeitgemäße „philosophia perennis“, bei der ihm auch seine Kenntnis des Mittelalters und der Renaissance zu Hilfe kam. Cornelius Zehetner (Wien) würdigt ihn als christlichen Humanisten, der kulturellem Niedergang die „Entschlüsselung der Kultur durch Metaphysik“ (260) entgegenhält (251-263). Ein ähnliches Anliegen mit explizitem Anschluss an Urtexte des Thomas von Aquin bewegte den großen Münsteraner Josef Pieper, der aufgrund seiner klaren und verständlichen Sprache zu den am meisten gelesenen und übersetzten deutschen Philosophen gehört. Er wird von Berthold Wald (Paderborn), dem Herausgeber der Pieper-Werkausgabe (Hamburg 1995-2008), treffend gezeichnet und auf das aktuelle Thema „Vernunft und Glaube“ hin ausgelegt (379-392). Der Freiburger Max Müller ist – mehr noch als die Jesuiten Karl Rahner und Johann Baptist Lotz – in Nähe und Distanz philosophischer Schüler Martin Heideggers. Von Guardini übernahm er den Begriff der Person und stellte ihn den heideggerschen Begriffen der Existenz und des Selbst gegenüber. Hier findet eine Differenzierung statt, die Holger Zaborowski (Washington) dann mit Müllers Entwurf einer Metahistorik („Metaphysik als Geschichte“) und seiner Kritik positivistischer Wissenschaft weiter ausführt (413-426). Die Philosophie des 20. Jahrhunderts steht für Katholiken in besonderer Weise unter den Vorgaben und Herausforderungen, die der aus katholischem Umfeld („Herkunft ist Zukunft“) stammende Martin Heidegger repräsentiert. Hier hätten daher auch Dietrich von Hildebrand, Martin Honecker und Hans-Eduard Hengstenberg als „Gegenpole“, vor allem aber Gustav Siewerth, dessen Heideggerverständnis ein dringendes Forschungsdesiderat bildet, ein „Porträt“ oder wenigstens eine Erwähnung verdient.

Unter lebenden und noch aktiv wirkenden Philosophen wählt Schwab zwei Autoren aus, die beide dem „katholischen deutschen Intellektuellen“ Papst Benedikt XVI. ohne Aversionen inhaltlich nahe stehen: Der Stuttgarter Philosoph und Ethiker Robert Spaemann ist international bekannt und argumentiert seit Jahrzehnten gegen eine „hypothetische Zivilisation“, die sich dem Relativismus preisgibt. Eckhard Nordhofen (Gießen) vergleicht in seinem Artikel die beiden „Ritter-Schüler“ Spaemann und Odo Marquart, die bei aller Liberalität im Umgang zu ganz gegensätzlichen Überzeugungen finden (583-595). Elisabeth Münzebrock (Eichstätt) stellt die seit 1993 in Dresden lehrende Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz vor. Sie wurde in weiteren Kreisen durch ihre große Guardini-Biographie bekannt. Schwerpunkt ihres Forschens und Lehrens ist Edith Stein und die Philosophie der Renaissance, die Postmoderne und die Gender-Diskussionen werden von ihr intensiv beobachtet und kritisch weitergeführt. Zuletzt widmete sie sich dem Thema einer „Phänomenologie der Gabe“ (681-693). Als berufene Auditorin der römischen Bischofssynode im Herbst 2008 zur Verkündigung des Wortes Gottes äußerte sie u.a.: „Das Wort selbst überzeugt, nicht unsere Worte: ‚Das Wort zerreißt die Worte‘ (Origenes). Was heute von wenigen gedacht wird, kann morgen viele erreichen. Gehen wir also mit dem Wort auch in die Universitäten. ‚Dominus illuminatio nostra‘ steht am Eingang der Universität Oxford: Der Herr ist unsere Aufklärung. Die falsche Alternative ‚Säkularismus oder Glaube‘ muss aufgebrochen werden. Nach den Enttäuschungen der großen Ideologien ist die Zeit wieder offen für Kriterien der Wahrheit“ (691).

Durch die Auswahl dieser beiden gläubigen Philosophen von Format – es hätten auch noch Jörg Splett (Frankfurt) und Ferdinand Ulrich (Regensburg) unter den Lebenden Hervorhebung verdient – beweist Hans-Rüdiger Schwab am Ende seines beeindruckenden Sammelbandes, dass es ihm wirklich um eine unparteiliche und „intellektuell redliche“ Bestandaufnahme geht. Mit Spannung wird man die Fortsetzung erwarten. Den von Papst Paul VI. einmal pessimistisch beklagten „Bruch zwischen Evangelium und Kultur“ mag es in der Folge von „1968“ mental zeitweilig gegeben haben, für das 20. Jahrhundert insgesamt und für die Gegenwart gilt eher das Gegenteil: Evangelium und Kirche waren und sind immer mehr Hüter und Anreger echter Kultur und humanen Denkens, gerade auch in Deutschland, und brauchen sich keiner Minderwertigkeit zu schämen. Der repräsentative Band „Eigensinn und Bindung“ ist ein nicht nur dem Katholizismus, sondern dem Christentum allgemein geschenktes Fundament für künftige geistige Auseinandersetzungen.    

  

 abgedruckt in: FKTh 26(3/2010), 206-214; Die Neue Ordnung 64 (5/2010), 384-392