Ottmar Fuchs: Im Raum der Poesie. Theologie auf den Wegen der Literatur, Ostfildern (Grünewald) 2011, 355 Seiten

Der in Tübingen lehrende und aus dem Erzbistum Bamberg stammende praktische Theologe Ottmar Fuchs (Jg. 1945) hat schon immer vermocht, narrative Ansätze mit systematischem Denken zu verbinden, zuletzt in seiner mehrfach aufgelegten Eschatologie „Das Jüngste Gericht. Hoffnung auf Gerechtigkeit“ (Regensburg 2007). Nun legt er in einem neu komponierten Band „Im Raum der Poesie. Theologie auf den Wegen der Literatur“ seine verschiedenen Arbeiten zur Begegnung, zum Dialog und zur „gegenseitigen Wegweisung“ von Literatur und Theologie vor. Diese war im 20. Jahrhundert auch bereits katholisch theologisches Thema beim Claudel-Übersetzer Hans Urs von Balthasar, evangelisch bei Dorothee Sölle („Realisation“), aber an keinem anderen Ort im deutschen Sprachraum wurde dazu derart intensiv geforscht und publiziert wie gerade in Tübingen. Die Arbeiten von Walter Jens und Hans Küng, sowie deren „Schüler“ Karl-Josef Kuschel und Georg Langenhorst, haben unübersehbare Maßstäbe gesetzt, an die sich Ottmar Fuchs in aller Bescheidenheit anschließt: „Mit meiner Publikation kann ich mich gewissermaßen in das gemachte Bett dieser und anderer ähnlich grundlegender Arbeiten hineinlegen und muss es nicht selber nochmals ‚machen‘. Ich setze höchstens einen Mosaikstein dazu“ (22). Dieser hat es allerdings in sich und enthält nicht nur eigenständige Deutungen zu Goethes „West-östlichen Divan“, zu Karl Mays Interreligiösität, zu Stefan George und Werner Bergengruen, sondern unter Verwendung der Raummetapher einen sowohl literaturwissenschaftlich wie theologisch so innovativen Zugang, dass man fortan als Theologe der Auseinandersetzung mit der Literatur nicht mehr aus dem Weg gehen kann, ja in ihr „parallele Welten“ (34) und einen echten „locus theologicus“ erblicken muss. Georg Langenhorst formulierte die Frage: „Wie verändert  der Gang zur Literatur das explizit systematische Denken des Dogmatikers?“ (29). „Schreiben ist Totenerweckung“, sagt Fuchs mit Erich Garhammer, weil Literatur und Poesie immer gegen Tod, Traumatisierungen und Hoffnungslosigkeit ankämpfen. Seit Auschwitz kann kein Theologe das Zeugnis von Nelly Sachs („Landschaft aus Schreien“), Paul Celan („Tenebrae“) oder Elie Wiesel („Die Nacht“) mehr ignorieren. Die Sensibilität für den Mitmenschen wird nicht nur anthropologisch oder pastoralpsychologisch zu einem Thema der Theologie, sondern in besonderer Weise durch die Vermittlung der Literatur, die die Rechte des Einzelnen und Besonderen wider die Dominanz des Allgemeinen und das „Generalat des Generellen“ (48) wahrt. Deshalb ist vom praktischen und systematischen Theologen nach Fuchs in gleicher Weise ohne „Vereinnahmung“ (34) auch eine literaturwissenschaftliche Kompetenz und Offenheit gefordert. Diese stellt er selbst in seinen vier exzellenten Deutungen und den hinzugefügten „Kleineren Stücken“ und „An-sprachen“ so belesen und engagiert unter Beweis, dass das Buch, das wirklich wie jede echte Theologie und Literatur eine „Gabe“ (96-100; vgl. dazu die Arbeiten von Michel Henry, Rolf Kühn, René Kaufmann und Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz) darstellt, auch als germanistische Habilitation gelten könnte. Für den Theologen, Verkündiger, Katecheten und praktischen Seelsorger zeigt Ottmar Fuchs auf, dass die Lektüre eines modernen Romans (wie Pascal Merciers „Nachtzug nach Lissabon“ und Martin Walsers „Muttersohn“) oder eines Gedichtbandes wichtiger und lehrreicher sein kann als die neueste theologisch-pastorale Fachliteratur, deren Verfalldauer immer kürzer zu werden scheint.