Sendung und Auftrag des Papstes in Kirche und Welt

 

Nicht nur für Katholiken ist der römische Papst eine herausragende Persönlichkeit der Christenheit. Seine Wahl, sein Wirken und Handeln findet weltweit in allen Medien breite Aufmerksamkeit. Der jeweilige Nuntius des Heiligen Stuhls ist als Vertreter des Vatikanstaates  oft Doyen (Dekan) des diplomatischen Korps. Die Wahl des römischen Papstes ist ein Weltereignis und mit vielen frohen Hoffnungen oder auch klammen Befürchtungen verbunden. Spekulationen über mögliche Papstkandidaten („papabile“) in einem Konklave wecken Interesse und bieten Stoff für Bestseller literarisch-unterhaltsamer (Robert Harris, Konklave. Roman, München 2016) oder historisch-sensationeller (Hubert Wolf, Konklave. Die Geheimnisse der Papstwahl, München 2017) Machart. Eine neue seriöse Papstgeschichte erschien kürzlich von Volker Reinhardt (Pontifex. Die Geschichte der Päpste. Von Petrus bis Franziskus, München 2017). Bei all der globalen und oft verzerrten Außenwirkung des katholischen Papsttums ist es für eine tiefere Sicht seines Wesens umso notwendiger, sich kompetent und umfassend über dessen kirchengeschichtliche und theologische Grundlinien zu informieren. Niemand scheint dazu berufener als der noch von Papst Benedikt XVI. dazu berufene Präfekt der römischen Glaubenskongregation Gerhard Kardinal Müller, der zuvor 10 Jahre als Bischof von Regensburg amtierte und 16 Jahre Dogmatik-Professor in München war. Mit einem auf das römische Hochfest „Cathedra Petri“ (22. Februar 2017) datierten Vorwort hat Müller nun ein sehr persönlich-bekennendes und theologisch umfassendes Grundlagenwerk verfasst. Einige frühere Arbeiten und Texte Müllers sind darin eingegangen. Es ist keine sich in Einzelheiten verlierende theologisch-wissenschaftliche Spezialliteratur, sondern eine gehaltvolle und allgemein verständliche katholisch-christliche Gesamtdarstellung des Themas:

Gerhard Kardinal Müller, Der Papst. Sendung und Auftrag, Herder Verlag Freiburg im Breisgau 2017, 608 S. geb., 29,99 €,  ISBN 978-3-451-37758-7

Das im März 2017 von Ökumene-Kardinal Kurt Koch im Vatikan vorgestellte Papstbuch mit dem Titelbild der Schlüsselübergabe (von Pietro Perugino aus der Sixtinischen Kapelle) beginnt mit den Worten: „In der globalen religiösen, moralischen, kulturellen und politischen Krise der Gegenwart, wie sie die Menschheitsgeschichte bisher nicht gesehen hat, kommen in Rom, dem Mittelpunkt der katholischen Welt, wie in einem Brennglas alle Hoffnungen und Befürchtungen der Menschheit zusammen“ (13). Kardinal Müller will bewusst nicht über eine Theologie des Papsttums schreiben, sondern über den Papst als Person mit einer von Christus erhaltenen Sendung und einem kirchlichen Auftrag. Öfter bezieht der Glaubenspräfekt sich auch auf das 500-jährige Gedenken der lutherischen Reformation 1517-2017, bei der gerade die Ablehnung des Papstes  zur tragischen Spaltung beitrug. Gewidmet hat der Autor sein großes Papstbuch der „Heiligen Römischen Kirche, Mutter und Lehrmeisterin aller Kirchen, die nichts anderes will, als aufgrund des Primat der universalen Liebe durch ihren obersten Hirten zu lehren und ihren Willen kundzutun“ (5; im Original lateinisch). Das alle Dimensionen von Glaube und Kirche auslotende Werk besteht aus zwölf Kapiteln und einem zusammenfassenden Anhang mit einem Text der römischen Glaubenskongregation über den „Primat des Nachfolgers Petri im Geheimnis der Kirche“ aus dem Jahre 1997.

 

 

Persönlicher Einstieg des Kardinals

Im ersten Kapitel beschreibt Müller „die Päpste meiner Lebensgeschichte“ (17-110). Obwohl sehr persönlich gehalten überwiegt auch hier das lehrhafte Zeugnis des Glaubens, der einer anderen Kategorie angehört als „das Wissen um die Dinge der Welt“ (20). „Das ICH meines persönlichen Glaubens an Gott wird von der Kirche gleichsam mütterlich empfangen, getragen, geboren und ernährt. […] Die Kirche bedeutete für mich nie eine anonyme Institution, so unerreichbar wie die Gerechtigkeit in Kafkas ‚Schloss‘. Das Papsttum hatte in den einzelnen Päpsten von meiner Kindheit an bis zu meinem gegenwärtigen Dienst als Präfekt der Glaubenskongregation immer ein menschliches Gesicht, das diese Stiftung Christi repräsentiert“ (20f). Dazu gehören die sieben Päpste, die seit seiner Geburt in Mainz am Tag des Papstes Silvester, dem 31. Dezember 1947, seinen Lebensweg begleiteten: Pius XII. war der große Leitstern der Kindheit und Jugend, unter dem er die Einführung in die Mysterien des Glaubens erhielt. Der von Papst Franziskus zusammen mit Johannes Paul II. heiliggesprochene Papst Johannes XXIII. war ein ergreifendes Erlebnis durch seine Konzilseröffnung, auch durch seine Enzyklika „Pacem in terris“ (1963), aber nicht gerade „die Identifikationsfigur für meine Priesterberufung“ (54). Näher stand Müller als Abiturient, Theologiestudent und Doktorand der eigentliche Konzilspapst Paul VI. (inzwischen auch seliggesprochen). Durch ihn wurde auch die Zeit im Priesterseminar bis zur Priesterweihe durch Kardinal Hermann Volk in Mainz am 11.Februar 1978 geprägt. „Das Unverständnis, das ihm von extrem konservativen und progressiven Gruppen entgegenschlug bis zur bösartigen Häme wegen der erst heute als prophetisch erkannten Enzyklika Humanae vitae (1968), bereitete Paul VI. großen Schmerz“ (61). Seinem Lehrer und Doktorvater, dem Mainzer Bischof (seit 1983) und späteren DBK-Vorsitzenden Kardinal Karl Lehmann, widmete der Schüler eine hier abgedruckte Würdigung aus der „Mainzer Allgemeinen Zeitung“ zu seinem 80. Geburtstag im Mai 2016 (63-66). Papst Johannes Paul II. berief dann den Münchener Theologieprofessor, der über Dietrich Bonhoeffer promovierte (später auch eine Bonhoeffer-Biografie verfasste) und über die „Theologie der Gemeinschaft der Heiligen“ in Freiburg habilitiert wurde, 1998 in die Internationale Theologenkommission und 2002 zum Bischof von Regensburg. Ihn lernte er auch persönlich kennen und schätzte sehr seinen mutigen Einsatz gegen die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. „Er war als Mensch authentisch und als Christ überzeugend. Er war in allem eine im Glauben und der Liebe gereifte Persönlichkeit. Weder gefiel er sich populistisch im Glanz seines Amtes noch stellte er eine falsche Bescheidenheit zur Schau“ (74). Während des Wojtyla-Pontifikates, das die lateinamerikanische „Theologie der Befreiung“ vor marxistischen Einseitigkeiten zu bewahren versuchte, begegnete Müller in Peru dem bekannten Befreiungstheologen Gustavo Gutiérrez und besuchte ihn und sein Land fortan regelmäßig. 2008 verlieh ihm die Päpstliche Katholische Universität Lima den Ehrendoktor. Diese Erfahrungen waren sicher wertvoll, um dann später mit einem lateinamerikanischen Papst in der Kirchenleitung zu kooperieren.

Kardinal Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. war Müller ein enger Vertrauter und theologischer Lehrer. Seit 2007 gibt er am Regensburger „Institut Papst Benedikt XVI.“ und in Kooperation mit dem Herder-Verlag dessen „Gesammelte Schriften“ heraus. 2012 wurde er zum Präfekten der Glaubenskongregation berufen, ein Amt das Ratzinger vor seiner Papstwahl selber innehatte. Müller würdigt die Enzykliken Papst Benedikts XVI., seine Behandlung des Themas „Glaube und Vernunft“ und die große Jesus-Trilogie, in der „das Lebenswerk Joseph Ratzingers kulminiert“ (97). Keine Erwähnung finden Fragen um die Liturgie, die Piusbruderschaft oder die Missbrauchskrise. Papst Franziskus, der Müller 2013 nach seiner Wahl im Amt bestätigt und 2014 ins Kardinalskollegium aufnimmt, wird als „feliciter regnans“ vorgestellt. Nähe zu den Armen, Brücken zu den Fernstehenden und die göttliche Barmherzigkeit, der ein eigenes „Heiliges Jahr“ gewidmet wurde, sind bisher zentrale Themen seines Pontifikates. Indem Müller seinen eigenen Beitrag zum Thema Ehe auf der Bischofssynode 2015 vollständig abdruckt (101-105), kann man darin eine gewisse Distanzierung von liberalen Auslegungen von „Amoris laetitia“, dem nachsynodalen Schreiben über Ehe und Familie, erkennen. Die bisher unbeantworteten „Dubia“-Anfragen von vier Kardinälen (Walter Brandmüller, Joachim Meisner, Carlo Caffara, Raymond Burke) zur möglichen Zulassung von wiederverheiratet geschiedenen Katholiken zu den Sakramenten werden nicht aufgegriffen. Am Ende des persönlichen Kapitels blickt Müller dankbar zurück auf seine Papsterfahrungen und betrachtet eindrücklich die Inschriften in der römischen Petersbasilika: “Tu es Petrus …“ (105-110).

 

Grundlinien des päpstlichen Primates

Das zweite Kapitel behandelt grundsätzlich und knapp „die Mission des Papstes im universalen Heilsplan Gottes“ (111-135): „Die höchste Verantwortung, die Gott einem Menschen auf Erden überträgt, ist die Mission des Bischofs von Rom“(113). Müller betreibt keine Überhöhung und Idealisierung des Papstes, sondern stellt ihn zuerst als „Zeuge des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohne Gottes“ vor, sodann mit aktuellem Blick auf Papst Franziskus in einer Art Nachfolge Johannes des Täufers als „Stimme eines neuen Rufers in der Wüste“ (115), der den Schrei der Armen und Unterdrückten aufgreift. „Mit seinen Schlüsseln öffnet der Papst die Türen zum Reich Gottes“ (117). Göttliche Barmherzigkeit wendet sich den Menschen zu in Gestalt der Sakramente. Müller schreibt etwas salopp: „Die Sakramente sind nichts anderes als die sozialen Medien der Kommunikation mit Gott im ‚Facebook‘ Jesu und seinen weltweiten ‚Followers‘, den Fischen im Netz Petri“ (119). Dabei geht es nicht um kirchliche Macht, sondern um das ewige Heil des Menschen und die Einheit der ganzen Menschheit. Im Heilsplan Gottes erfüllt die um Petrus geeinte Kirche diesen Zweck. Christi Botschaft, von ihr verkündet, ist eine Art „Gewissensspiegel der Welt“ (123). Der Papst hat auch anthropologisch den Auftrag, Garant und Interpret der freien geistigen Natur des Menschen zu sein, ihn vor dem Abgleiten in einen ideologischen Absolutismus oder Relativismus in der Wahrheitsfrage zu bewahren. Christologisch ist der Papst als Nachfolger Petri zugleich „Stellvertreter Christi“ (Vicarius Christi). Bischöfe, Priester, Ordensleute und  Laien sind diesem Auftrag „cum Petro et sub Petro“ unterschiedlich an- und eingegliedert. Müller zitiert dazu Texte von Cyprian, Bonaventura und dem großen Dominikaner Melchior Cano (1509-1560), der den Opportunisten und Claqueuren aller Zeiten sagt: „Petrus ist nicht auf unsere Lügen und Schmeicheleien angewiesen. Gerade diejenigen, die jede Entscheidung des Papstes blind und unkritisch verteidigen, tragen am meisten dazu bei, dass die Autorität des Heiligen Stuhles untergraben wird. Sie stärken seine Fundamente nicht, sondern zerstören sie“ (132, aus „De locis theologicis V“). Ähnliche Worte fand der Kirchengeschichtler Hubert Jedin zu Missbräuchen in der Kirche vor dem Tridentinum. Wird dies beachtet, kann sich vielleicht auch einmal die von Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Ut unum sint“ (1995) visionär angesprochene ökumenisch vermittelbare Gestalt des Papsttums finden (134f).

Nach diesen Grundlinien widmet sich das dritte Kapitel dem Papsttum als „Tatsache der Geschichte und der Offenbarung“ (139-166). Hier werden sämtliche wichtigen Historiker der Papstgeschichte erwähnt, auch der Protestant Leopold von Ranke (1795-1886). Das Papsttum ist ein Phänomen nicht nur der Kirchen-, sondern auch der Weltgeschichte. Es kann aber nur in einer Hermeneutik des Glaubens verstanden und recht gedeutet werden (144). Dabei steht es im Widerspruch zu diversen protestantischen Kirchenbildern, etwa der liberalen Vertrauenstheologie eines Adolf von Harnack, aber auch zu politischen Strömungen: Febronianismus, Gallikanismus, Josephinismus und Altkatholizismus relativieren den päpstlichen Lehr- und Jurisdiktionsanspruch. Der heutige Glaubenspräfekt würdigt und zitiert dabei den bedeutenden Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger, der dem seligen John Henry Newman (auch über ihn verfasste Müller eine Biografie) nahe stand und sich nach dem von ihm kritisierten Unfehlbarkeitsdogma von 1870 ohne sich den Altkatholiken anzuschließen zunehmend isolierte. Der Ursprung des Papsttums liegt nicht in menschlichem oder kirchlichem Wollen, sondern im Willen Gottes zur Kirche als „universalem Sakrament des Heils“ (II. Vatikanum). Dazu verweist Müller theologisch auf das wichtige Werk des Bonner Dogmatikers Karl-Heinz Menke „Sakramentalität. Wesen und Wunde des Katholizismus“ (Regensburg 2012). Politisch merkt er an: „Es verrät tiefe Unkenntnis, wenn man die vatikanische Erklärung von der Unfehlbarkeit des Papstes als Kompensation für den Verlust des Kirchenstaates versteht und dies als Geheimtipp für ihr Verständnis weiterflüstert“ (155). Das geschichtliche Papsttum zu Rom ist in der Offenbarung begründet (159). Eine überzeitlich-unsichtbare rein platonische Kirche ohne Papst ist eine „unkatholische Vorstellung“ (161). Müller beruft sich wiederum auf des genialen Johann Adam Möhlers kontroverstheologisches Werk „Symbolik“ (1832). Der Auftrag des römischen Papstes wird inklusive und übernatürlich geglaubt im Artikel „Credo sanctam ecclesiam catholicam“ (165). Das Kapitel endet mit der Grabinschrift des ermländischen Kardinals Stanislaus Hosius (1504-1579): „Catholicus non est, qui a Romana ecclesia in fidei doctrina discordat“(166).

Auf die Verwurzelung des Papsttums in der historisch-konkreten biblischen Offenbarung geht besonders das vierte Kapitel “Der Urheber der Kirche ist auch der Stifter des Papsttums“ (169-228) ein. Es geht um „das Verhältnis Jesu zu dem Fischer vom See Genezareth, den er zum Felsen erklärte, auf den ER Seine Kirche bauen werde (sic!)“ (169). Erkenntnis der Offenbarung kann weder rationalistisch noch fundamentalistisch erfolgen, bedarf aber des steten Bezuges zum theologisch-geschichtlichen Inhalt der vier Evangelien (174). Das Petrusbild der Evangelien, die Berufung der Apostel und die Darlegung des sich entwickelnden Glaubens in der Kraft des Heiligen Geistes sind die eigentliche Basis der kirchlichen Tradition bis in die Gegenwart. Petrus ist von Beginn an als Glied das Haupt des Apostelkollegiums und bekennt als solches von Jesus Christus: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16, 16). In diesem „nicht von Fleisch und Blut, sondern vom Vater im Himmel“ (Mt 16, 17) inspirierten Christusbekenntnis, das Jesus mit dem „Tu es Petrus“ als Fels und Fundament der Kirche beantwortet, ist auch die Unfehlbarkeit Petri und seiner Nachfolger in der Glaubenslehre begründet. Jesus Christus ist selbst Stifter des Petrusamtes, dem er die Schlüssel des Himmelreiches übergibt (Mt 16, 18-19). Dies wird von Müller weiter mit Bezügen auf Augustinus und Thomas von Aquin ausgefaltet. Doch der Petrusdienst ist nicht allein kirchlich, sondern gilt dem Messiasglauben überhaupt in der Krise. Deshalb muss er der Versuchung der Macht und der politischen Vereinnahmung widerstehen. „Die Wahrheitsfrage darf nie der Diplomatie und Politik des Heiligen Stuhls geopfert werden“ (210). Beachtlich ist dabei Müllers Bemerkung: „Darum war es ein Fehler, bei der Kurienreform 1965 das Staatssekretariat den Kongregationen der Kurie, besonders der Kongregation für die Glaubenslehre, voranzustellen“ (ebd.). Geschildert wird sodann instruktiv die Rolle des Petrus an Pfingsten, in der Apostelgeschichte und im Johannesevangelium. Begründet wird auch die Papstanrede „Heiliger Vater“ mit der Repräsentanz der väterlichen Liebe Gottes und dem Hirtenauftrag. Zur apostolischen Lehre Petri gehört vor allem das in Geist und Kraft abgegebene Osterzeugnis der Auferstehung Jesu. Trotz seiner Differenzen mit Paulus integriert Petrus mit ihm „Juden und Heiden“ in der einen Kirche Jesu Christi. Beide sind mit ihrem Martyrium der eigentliche Glanz der ewigen Stadt Rom. 

Das fünfte Kapitel behandelt kirchen- und dogmengeschichtlich sehr ausführlich das Thema „Der römische Primat in der apostolischen Tradition“ (229-292). Aus der Kirche der Apostel wird die apostolische Kirche, die mit der Person des Petrus im Bischof von Rom fest verbunden ist und so ihr sichtbar-sakramentales Wesen zeigt. Die Ortskirchen sind nur „katholisch“ in lebendiger Verbundenheit mit der Kirche von Rom und deren universalem Hirtenauftrag. Mit dem frühen Märtyrerbischof Ignatius von Antiochien gesprochen hat Rom „den Vorsitz der Liebe“ (237) inne. Daran schließen sich auch früh Papst Clemens I. in seinem Brief an die Korinther und Irenäus von Lyon (um 135-200) mit Bemerkungen zur apostolischen Sukzession der Bischöfe an. Schon Paulus anerkannte die Rolle des Petrus und der anderen Apostel. Aber durch den „antiochenischen Zwischenfall“ (Gal 2, 11-14) um herkömmliche Speisevorschriften erweist er auch die durch Thomas von Aquin bestätigte  Möglichkeit, „dass die brüderliche Zurechtweisung eines Apostels durch einen anderen oder die Kritik dem Höherstehenden gegenüber unter Umständen nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Pflicht darstellt“ (240). Sollte ein Papst, der durchaus ein Sünder und persönlich fehlerhaft sein kann, in wichtigen Lehrfragen an der Kirche schuldig werden, „käme auf die Kardinäle der Heiligen Römischen Kirche die schwere Verantwortung zu, nach dem Vorbild des hl. Paulus die ganze Wahrheit und Fülle des Evangeliums dem Papst ins Angesicht zu sagen. Denn die römische Kirche ist auch auf Paulus gegründet“ (240). Die Lehre vom römischen Primat in bischöflicher Sukzession wird von den Kirchenvätern vertieft und stimmt darin überein, dass der Bischof von Rom „1. der legitime Nachfolger Petri als Fels, auf den der Herr seine Kirche baut; 2. der universale Hirte, der seine bischöflichen Mit-Brüder im Glauben an Jesus, den Messias und Sohn Gottes, stärkt; 3. das Personalprinzip der Einheit des Episkopates und aller Kirchen“ ist (243).

Der römische Papst spielt eine entscheidende Rolle bei der Abwehr aller Häresien und Schismen im Altertum. Mit der Cathedra Petri bleibt „die Kirche des lebendigen Gottes die Säule und das Fundament der Wahrheit Gottes im Fleisch Jesu“ (1 Tim 3, 15f; 251). Eine eigene Primatstheologie entwickelt sich dann mit Cyprian von Karthago (†258). Müller betont in seinen Darlegungen gegen viele Missverständnisse aber auch: „Der Lehrprimat des Papstes ist kein Materialprinzip der Kirche. Das ist nur die Offenbarung, die in der Schrift und Tradition der Apostel und der Kirche auf uns kommt. Das päpstliche und konziliare Lehramt sind nur formelles Prinzip der Feststellung, aber niemals des Ursprungs der Wahrheit des Bekenntnisses und der Einheit der Kirche“ (255). Ist allerdings ein Dogma „als von Gott geoffenbarter Glaubenssatz einmal von der Kirche als zu glauben vorgelegt worden, kann man es nicht mehr nach rückwärts dekonstruieren, sondern nur nach vorne konstruktiv lebendig bewahren und vertiefen. Denn die Kirchengeschichte hat nur eine Richtung auf den kommenden Christus hin – bei treuer Wahrung des geoffenbarten Glaubens“ (258).

Mit Johann Adam Möhler hält Müller als Ergebnis der frühen Entwicklung fest: „Der Papst von Rom ist die Einheit der Universalkirche in Person“ (261). So werden nach der konstantinischen Wende Konzilsbeschlüsse  nicht durch die Autorität des Kaisers, sondern erst durch die päpstliche Bestätigung gültig. Hier werden die wiedergegebenen Briefe und Predigten von Papst Leo dem Großen (400-461) den Anspruch sichern. Ambrosius prägt den Satz „Ubi Petrus – ibi ecclesia“ (273). Unangefochten steht im Altertum der abendländische Patriarch von Rom (Benedikt XVI. verzichtete 2006 auf diesen Titel) vor den Patriarchen und Patriarchaten von Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem. Nach der Spaltung des Reiches und dem abendländischen Schisma von 1054 formiert sich im Mittelalter die Jurisdiktionsgewalt des Papstes neu und überspannt im “Dictatus papae“ Gregors VII. (1075), mit dem sich die Kirche kurzzeitig einen politischen Absolutheitsanspruch gab (vgl. den berühmten „Gang nach Canossa“ Kaiser Heinrich IV.). Politische Gründe tragen dann auch mehr zur west-östlichen Kirchenspaltung bei als theologische Differenzen (etwa beim „filioque“ des Credo). Mit einem oft zitierten Vorschlag von Kardinal Joseph Ratzinger ist von den Ostkirchen „nicht mehr, aber auch nicht weniger an Primatslehre anzuerkennen als diejenige, die allen katholischen Kirchen im ersten Jahrtausend gemeinsam war“ (283). Ost-westliche Annäherungen in der Primatsfrage gab es immer wieder. Müller hält klärend fest: „Der orthodoxe Widerstand gilt der mittelalterlichen theologisch-politischen Theorie der päpstlichen Universalmonarchie von Gregor VII. bis Bonifatius VIII. als ihren profiliertesten Vertretern. Diese ist aber nicht Bestandteil der katholischen Glaubenslehre vom Primat des Papstes“ (292). Im Grunde ist daher nach der weiterentwickelten Lehre des II. Vatikanums mit der Anknüpfung an die altkirchliche Communio-Ekklesiologie das west-östliche Schisma eigentlich eine „inner-katholische Differenz um die genaue Umschreibung des römischen Primates im Verhältnis zum Ganzen des Episkopates“ (ebd.).

 

Der reformatorische Protest und das Dogma von 1870

Im sechsten Kapitel  (293-324) geht Kardinal Müller ausführlich und mit klarem katholischen Profil auf die reformatorische Herausforderung des Papsttums ein, die bei Martin Luther bis zu einer entschiedenen Absage an den Papst führte. Der Ablassmissbrauch durch Prediger wie Johann Tetzel (1465-1519) war sicher der auslösende Anlass, „das Kind mit dem Bade auszuschütten“. Die Spaltung hatte sich schon vorher angedeutet, auch im Konziliarismus und in Zeiten mit drei parallelen Päpsten. „Luther warf ungezielt nur den Funken und die Explosion riss die abendländische Christenheit in Stücke“ (295). Noch nicht beim Wittenberger Thesenanschlag 1517, wo der Papst noch eine Berufungsinstanz ist, aber dann mit der Verbrennung der Bannandrohungs-Bulle „Exsurge Domine“ von 1520 waren Papst und Papsttum auch theologisch Grundgegensatz Luthers und des Protestantismus. Müller schildert sachorientiert Luthers Beweggründe, den Papst als Oberhaupt der Kirche abzulehnen, er würdigt (wie Papst Benedikt XVI. 2011 bei seinem Besuch im Erfurter Augustinerkloster) Luthers leidenschaftliches Ringen um einen „gnädigen Gott“ (299), die Dispute um Rechtfertigung und Heilsgewissheit (305). Eine Grunddifferenz zum Katholizismus war und ist das Verständnis des sakramentalen Amtes – ist es eine Delegation der Gemeinde oder eine kirchlich vermittelte Einsetzung durch Christus. Die Ablehnung des göttlichen Anspruchs des Papstes führt zur Ablehnung des sakramentalen Priestertums und der Messe. Luthers antipäpstliche Polemik steigerte sich parallel zu seinen antijüdischen Ausfällen. Das Papsttum ist „vom Teufel gestiftet“ (1545), der Papst „der Antichrist“. Es war der „antirömische Affekt“ geboren, den vor Hans Urs von Balthasar (1974) bereits Carl Schmitt (1925) zur Sprache brachte. Auch wenn Philipp Melanchthon und die „Confessio Augustana“ einige Punkte abgemildert haben, bleibt der dogmatische Gegensatz bis heute bestehen. Statt eine von hierarchischer Verfassung freie Kirche zu bilden, musste Luther die äußere Organisation den christlichen Fürsten und damit dem Staat überlassen. Es entstanden neue und oft schlimmere Abhängigkeiten, die in Luthers Heimat in den antisemitischen „Deutschen Christen“ gipfelten. Müller beschreibt einfühlsam wie sich die katholische Kirche auf dem Tridentinum und im I. Vatikanum neu formierte, schließlich dann im II. Vatikanum auch berechtigte Anliegen der Reformation aufnahm. In Gänze zitiert Müller eine kluge Interpretation der Beschlüsse des I. Vatikanums durch die damaligen deutschen Bischöfe (322-324). Im elften Kapitel wird die Thematik ökumenisch weitergeführt (s.u.).

Ähnlich kontroverstheologisch und unangepasst erörtert Müller nun im siebten Kapitel „Das Dogma vom Lehr- und Jurisdiktionsprimat des römischen Papstes“ (325-348). Dazu gehört auch die geistesgeschichtliche Lage im 19. Jahrhundert, die von einem „scheinbaren Gegensatz von Vernunft und Glaube“ (327) gekennzeichnet war. „Über die Philosophie des kantischen Kritizismus, des Idealismus bei Hegel oder auch des materialistischen Monismus war kein Zugang zu einer realen heilsgeschichtlichen Offenbarung Gottes vermittels der Inkarnation zu erreichen“ (ebd.). Deshalb muss die Konstitution „Pastor aeternus“ über den päpstlichen Primat und die „Unfehlbarkeit“ zusammen mit der viel zu wenig bekannten Konstitution „Dei filius“ über den Glauben gelesen werden. Gegnern der Beschlüsse des I. Vatikanums gibt Müller klare Antworten aus theologischer Gesamtsicht. Die eher populistischen Einsprüche Hans Küngs in seinem Bestseller „Unfehlbar? Eine Anfrage“ (Einsiedeln 1970) hält Müller nicht für erwähnenswert, dagegen wäre ein Hinweis auf das große dogmengeschichtliche Werk „Der Primat des Bischofs von Rom. Entwicklung – Dogma – Ökumenische Zukunft“ (Freiburg 2004) von Wolfgang Klausnitzer sicher angebracht gewesen.  Der Papst ist nicht bloß der Vorsitzende einer globalen Bischofskonferenz, sondern hat als sichtbares Haupt des Bischofskollegiums ein eigenes Charisma, das das Charisma der einzelnen Bischöfe nicht hemmt, sondern fördert. Das vatikanische Dogma vom 18. Juli 1870 zum Lehr- und Jurisdiktionsprimat des Bischofs von Rom ist nicht aus politischen oder soziologischen Gründen entstanden, sondern wird „rein offenbarungstheologisch und ekklesiologisch begründet“ (343). Gerade in dieser Unabhängigkeit können Papst und Kirche einem intellektuellen und ethischen Relativismus oder nationalkirchlichen Vereinnahmungen widerstehen (345). Damit leisten sie stellvertretend einen Dienst gegen alle politischen, nationalen oder geistigen Totalitarismen.

 

Papst und Bischofskollegium nach „Lumen gentium“

Im achten Kapitel behandelt Müller theologisch versiert und immer wieder mit Bezugnahme auf ausführlich wiedergegebene Texte des II. Vatikanums „Die Integration des Papsttums in Kirche und Bischofskollegium“ (349-388). Ausgangspunkt ist ihm „das Dogma vom Episkopat göttlichen Rechtes“ (351). Daher kann die Kirche in ihrer geschichtlichen Erscheinung nicht demokratisch, sondern nur christokratisch verfasst sein – ohne sich damit politisch von der demokratischen Staatsform in irgendeiner Weise zu distanzieren. Auch der Papst „bleibt an die Verfassung der Kirche immer gebunden und kann weder seine Primatialrechte mit anderen teilen noch sie anders definieren, noch kann er das göttliche Recht der Bischöfe mindern oder steigern“ (357). Die kollegiale Einheit des Gesamtepiskopates mit dem Bischof von Rom als Prinzip seiner Einheit stellt keine Neuerung des II. Vatikanums dar (355). Hier wird von Müller wieder Johann Adam Möhler mit seiner „Symbolik“ zum Zeugen für das Zu- und Miteinander von Papst und Episkopat genommen (356f). Die in der „Nota praevia explicativa“ zur Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ festgehaltene höchste Vollmacht des Papstes in der Kirche darf keine Willkür begünstigen, sondern hat dem „bonum ecclesiae“ zu dienen (358). Deshalb muss ein Papst „bereit sein, von den Kardinälen und engsten Mitarbeitern der Kurie konstruktive Kritik entgegenzunehmen wie einst Petrus von Paulus“ (ebd.). Ein Papst erhält mit seiner Wahl nicht die Gelegenheit, „die eigenen theologischen Sonderideen der Kirche aufzudrängen, alte Rechnungen zu begleichen, dem Cäsarenwahn im neuen Gewand des medialen Populismus nachzugeben oder sich in die Rolle des Medienstars drängen zu lassen“ (ebd.).  Deshalb müsse das Morgen- und Abendgebet des Papstes sein: „Non nobis, Domine, sed nomini tuo da gloriam“ (Ps 115,1; 359). Bischofskollegium und Papst sind keine Antipoden, sondern bilden eine fruchtbare Spannung und Ergänzung – wie in „Lumen gentium“ breit dargelegt und von Müller aufgegriffen wird. Hinter allen sichtbaren Kirchenhäuptern steht Christus als das unsichtbare Haupt seiner Kirche. Nicht Umfragen oder mediales Mainstreaming, sondern der vom Geist inspirierte Glaubenssinn hält das Gottesvolk unter der Leitung des Lehramtes zusammen auf dem Weg der Nachfolge durch die Zeit in die Vollendung (364f).

Müller unterbricht hier seine Darlegungen, um sich den Impulsen des päpstlichen nachsynodalen Schreibens „Evangelii gaudium“ (2014) zu widmen. Hier hat Papst Franziskus die Evangelisierung und die Nähe zu den Armen als Mission der Kirche beschrieben. Die Ortskirchen wurden besonders gewürdigt. Auch sie sind keine Antipoden zur Kirche von Rom oder von ihr autonom, was in einem zuletzt friedlichen Disput zwischen Kardinal Walter Kasper und Kardinal Joseph Ratzinger Ende der 1990er Jahre ausgetragen wurde. Die Rolle der nationalen oder kontinentalen Bischofskonferenzen ist nicht theologisch-ekklesialer, sondern organisatorisch-kommunikativer Art. Müller stellt sich ausdrücklich hinter „Evangelii gaudium“ und Papst Franziskus. Auch die römische Kurie steht unter dem Ruf zu Reform und Entweltlichung (Benedikt XVI.). „Sie ist ihrer inneren Natur nach eine geistliche Einrichtung, die in der Sakramentalität der Kirche von Rom wurzelt, die durch das Martyrium von Petrus und Paulus mit einer besonderen Sendung für die ganze Kirche gewürdigt worden ist“ (381). Sie dient dem jeweiligen Papst in der Realisierung seines Lehr- und Hirtenamtes. Müller formuliert weitere Einordnungen, behandelt mit der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ als Grundlage theologische und praktische Fragen zu Kurie, Bischofssynoden, Bischofskonferenzen und allgemeiner hierarchischer Kollegialität/Communio von Papst und Bischöfen – „repetitio est mater studiorum“ – und formuliert als Quintessenz: „Der Papst ist das sichtbare Prinzip der Einheit der Kirche, in der die Einheit der Menschheit und ihre Gemeinschaft mit Gott vorausgebildet und vorweggenommen wird“ (388). Damit enden die eher systematischen und historischen Darlegungen Müllers zu Papsttum und Papst. Die „aktuelle Mission von Papst und Kirche“ (387), die auch nonkonformistische oder gar prophetische Kritik an negativen Erscheinungen beinhalten muss, wird in den folgenden drei Kapiteln aufgezeigt.

 

Zeugnis und Wirken des Papstes in der Gegenwart von Kirche und Welt

Im neunten Kapitel geht es um den Papst als „Zeuge Christi für die Würde jedes Menschen“ (389-438). „Das Lehramt der Bischöfe und des Papstes kann sich nicht beschränken auf die treue und vollständige Wiedergabe und Weitergabe der apostolischen Lehre“ (391). Diese Sendung zeigt sich vor allem in den Sozialenzykliken der Päpste seit Leo XII. („Rerum novarum“) und zieht sich bis in die Gegenwart. „Der Mensch ist der Weg der Kirche“ (394), er ist „Person von Anfang an“ (395). Die Verteidigung der Menschenrechte ist auch Mission der Kirche, darf jedoch nicht – wie bei der Deklaration 1789 in Frankreich – den Bezug des Menschen zur Transzendenz verdrängen. Eine falsch verstandene  Autonomie des Menschen würde zu Relativismus und Beliebigkeit führen. Müller erörtert dies mit dem italienischen Denker Marcello Pera und dem spanischen Theologen Gerardo del Pozo Abejon. Die Menschenrechte der Neuzeit, zu denen auch das oft vergessene Recht auf Leben von seinem Anfang bis zu seinem Ende gehört, definieren nicht „das Ziel der geistig-sittlichen Existenz des Menschen“, sondern haben „lediglich eine Schutzfunktion gegen die Willkür der Mächtigen in den politischen, monetären und medialen Absolutismen und Totalitarismen“ (404). Die moralische Autorität des Papstes für das Weltgewissen ist begründet in seiner religiösen Autorität. Die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ hat daher eine bleibende Gültigkeit, auch wenn in ihr manches zeitbedingt und vom Papst kaum die Rede ist.

Die beständige Formulierung einer katholischen Soziallehre (407-411) gehört zum Hirtendienst des Bischofs von Rom. Personalität, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Subsidiarität und die Orientierung am Naturrecht sind bleibende Prinzipien und Verpflichtungen kirchlicher Lehre. Dabei sollte eine Tugendethik nicht eine Ordnungsethik, eine Gesinnungsethik nicht eine Verantwortungsethik verdrängen (vgl. dazu den Aufsatz „Franziskus und die Soziallehre“ von Lothar Roos in dieser Zeitschrift 6/2016, 424-434). Genannt werden neben Konzilstexten die Enzykliken „Pacem in terris“ (1963), „Centesimus annos“ (1991), Evangelium vitae“ (1995) und „Deus caritas est“ (2005). Leider unerwähnt bleibt die eigentliche Sozialenzyklika Benedikts XVI. „Caritas in veritate“ (2009). Breiten Raum gibt Müller sodann unter dem Titel „Der neue Humanismus: Die Sorge um das gemeinsame Haus“ der Analyse und inhaltlichen Darstellung der Umwelt-Enzyklika „Laudato si“ (2015) des regierenden Papstes Franziskus I. (411-423). Schon seine Vorgänger sprachen von einer „Ökologie des Menschen“. Dabei ist nicht die Klärung wissenschaftlich umstrittener Fragen des Umweltschutzes Aufgabe des kirchlichen Lehramtes, sondern die Sensibilisierung für einen guten Umgang mit der in ihrem Bezug zu ihrem Schöpfer gesehenen Schöpfung. In „Papst Franziskus an der Seite der Armen“ (423-438) wird das wohl zentrale Anliegen des Bergoglio-Pontifikates umschrieben: „Ich wünsche eine arme Kirche für die Armen“ (425). Müller ergänzt hier theologisch die manchmal etwas plakativen Worte und Gesten des argentinischen Pontifex. Schon Papst Paul VI. verpflichtete die Kirche auf eine „Option für die Armen“. Mit seinem peruanischen Freund Gustavo Gutierrez hat Müller auch ein Buch über eine katholische Befreiungstheologie verfasst und stellt deren wesentliche Inhalte dar (431-438). Dabei werden auch Dietrich Bonhoeffer und die Instruktionen zur Befreiungstheologie aus den 1980er-Jahren einbezogen. Katholische Befreiungstheologie orientiert sich nicht am Marxismus oder „seinem Zwillingsbruder, dem kapitalistischen Liberalismus“ (435), sondern am Evangelium: „Die wahre Theologie der Befreiung zeigt, dass in Wahrheit nur Gott, der Vater Jesu Christi, und das Evangelium der Gnade und Wahrheit eine authentische und beständige Rolle für die Humanisierung des Menschen spielen können und zwar sowohl in individueller als auch in gesellschaftlich-sozialer Hinsicht“ (436).

Das zehnte Kapitel behandelt den zentralen Auftrag und die immer gültige Sendung des Papstes als „Hüter der Wahrheit Gottes und Hirte der Menschen“ (439-462). Dazu gehören die Gabe der Unterscheidung und der Mut, für die Wahrheit Gottes und des Menschen Zeugnis abzulegen, gelegen oder ungelegen. Müller erwähnt den „Relativismus der Postmoderne“ (441), gegen den sich besonders Papst Benedikt XVI. gestellt hat (447ff). Hervorgehoben werden Studien des britischen Soziologen Matthew Fforde zur Entchristlichung Europas und zur Krise der Moderne („Das Zeitalter der Einsamkeit“, Freiburg 2016; 443f). Eine Welt ohne Gott wird nicht gelingen, sondern in Chaos und Zerstörung enden. Dass Kardinal Müller sich selbst als Theologe und Bischof in diesem Anliegen gefordert weiß, zeigt sein hier beigefügter tiefschürfender Text in achtzehn Abschnitten: „Die Wahrheit Gottes begründet die Freiheit des Menschen“ (450-462). Er würde eine gesonderte Veröffentlichung verdienen.

Im sehr dichten elften Kapitel „Der Papst – Wegbereiter der Einheit der Christen in der Kirche Gottes“ (463-524), das das sechste Kapitel über den reformatorischen Widerspruch gegen das Papsttum fortsetzt, dreht sich alles um Fragen der Ökumene. Das Anliegen der Einheit der Christen liegt im Willen des Herrn der Kirche, ist keine Sache des theologischen Kompromisses, der kirchlichen Diplomatie oder einer Protestantisierung des Katholischen. Eine „Relativierung der Wahrheitsfrage und die unreflektierte Übernahme modischer Ideologien“ (466 mit Berufung auf Karl-Heinz Menke) blockieren den Weg zur Wahrheit. „Das Dokument der Glaubenskongregation ‚Dominus Iesus‘ aus dem Heiligen Jahr 2000, das von manchen nicht verstanden und von anderen zu Unrecht bekämpft wurde, ist die Magna Charta gegen den christologischen und ekklesiologischen Relativismus der Postmoderne“ (467). Müller erwähnt ökumenische Kontakte und Arbeitskreise, er würdigt die Augsburger „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung“ von 1999 als „Höhepunkt der bisherigen katholisch-lutherischen Ökumene“(472). Martin Luther ist für ihn „alles andere als ein Vorläufer des Säkularismus und des Christentums als Kultur- und Zivilreligion“ (474). „Von der radikalen Theozentrik und Christozentrik Luthers können wir viel lernen“ (475). In kursiver Schrift wird im Blick auf das Reformationsjubliäum programmatisch und luzide festgehalten: „Das Jahr 2017 kann für das Christentum in der modernen Welt dann zu einem Aufbruch werden, wenn nicht die Vorzüge des Protestantismus am Konstrukt der Moderne und ihrer Paradigmen konkurrierend zur katholischen und orthodoxen Kirche herausgestellt werden, sondern wenn das religiöse Anliegen der Reformation betont wird; und wenn sich die Christen im Wetteifer um die größere Treue zur Offenbarung Gottes in Jesus Christus und im Heiligen Geist näherkommen“ (475).

Dem fügt Müller als „meine These“ hinzu: „Die ursprüngliche Erfahrung und theologische Konzeption der Rechtfertigung des Sünders, wie sie Luther im Rahmen spätmittelalterlicher Schultraditionen und monastischer Spiritualität erfuhr, musste nicht zwangsläufig aus der katholischen Kirche hinausführen und stellt für sich genommen keinen unüberbrückbaren dogmatischen Gegensatz dar zum definierten katholischen Glauben, so wie er vor und nach der Bildung eines lutherischen Kirchentums dogmatisch für jeden Katholiken verbindlich war und ist“ (477). Diese Sicht sieht Müller durch Johann Adam Möhlers „Symbolik“, Karl Rahners Aufsatz „Die ewige Bedeutung der Menschheit Jesu für unser Gottesverhältnis“ und das achte Kapitel  der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ des II. Vatikanums untermauert. So sind „500 Jahre Reformation und Kirchenspaltung kein Anlass zum protestantischen Triumphalismus und zur Erneuerung katholischer Schuldgefühle“ (487).

Neben der Frage der Rechtfertigung sind die Amtsfrage und die „apostolische Sukzession“ im Mittelpunkt des lutherisch-katholischen Dialogs. Müller ist darin Experte und legt grundsätzliche theologische Leitlinien vor (490-496). Auch das unterschiedliche Kirchenverständnis bedarf der realistischen Klärung. Hier unterscheidet sich die katholische Kirche, in der laut II. Vatikanum die wahre Kirche Christi verwirklicht ist („subsistit“), fundamental von der evangelischen Auffassung der Kirche als unsichtbarer „creatura verbi“ (501-509). Eine Vermittlung der beiden Ansätze (509ff) ist schwierig: „Für die katholische Theologie ist hier der innere Zusammenhang von Schriftprinzip, Traditionsprinzip und apostolischer Sukzession der Bischöfe so entscheidend, wie ihn der hl. Irenäus von Lyon schon im 2. Jahrhundert erstmals herausgearbeitet hat und seither die Grundhermeneutik katholischen Glaubens bestimmt“ (513).

Größere Realisierungschancen in Richtung Kircheneinheit haben die ökumenischen Dialoge mit der Orthodoxie. Müller nimmt das historische Treffen von Papst Franziskus und dem Moskauer Patriarchen Kyrill auf Kuba im Jahr 2016 zum Anlass, um seine Gedanken zum Buch des Patriarchen „Das Wort des Hirten. Gott und Mensch. Die Geschichte des Heils“ zu präsentieren (514-524). Er stellt es an die Seite der Jesus-Trilogie Benedikts XVI. (521)  – neben dem ersten Kapitel wohl einer der persönlichsten Abschnitte des ganzen Buches. Auffallend ist, dass Müller die Friedensgebete von Assisi (seit 1986), den interreligiösen Dialog und die Problematiken um den Islam unerwähnt lässt. Aber vielleicht ist das eine indirekte Stellungnahme gegen manche Überbewertungen und Verfälschungen.

 

Benedikt XVI. und Franziskus I. als Lehrer des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe

Kardinal Müllers Papstbuch endet im zwölften Kapitel mit dem Titel „Der Papst – Lehrer der Vollendung des Menschen in Gott“ (525-566). Bevor die drei Enzykliken Benedikts XVI. und Franziskus‘ zu den drei theologischen Tugenden (1 Kor 13, 13) dargelegt werden macht Müller eine bemerkenswerte kontroverstheologische „Vorbemerkung“ (527). Er beruft sich zunächst auf eine Aussage des „Katechismus der Katholischen Kirche“: „Das universale ordentliche Lehramt des Papstes und der in Gemeinschaft mit ihm stehenden Bischöfe lehrt die Gläubigen die zu glaubende Wahrheit, die zu lebende Liebe und die zu erhoffende Seligkeit“ (KKK 2034). Gottes Liebe, in die Herzen eingegossen durch den Heiligen Geist (Röm 5, 5) ist die eigentliche Rechtfertigung des Sünders, wofür aus dem zu wenig bekannten Trienter Rechtfertigungsdekret zitiert wird: „Daher erhält der Mensch in der Rechtfertigung selbst zusammen mit der Vergebung der Sünden durch Jesus Christus, dem er eingegliedert wird, zugleich alles dies eingegossen: Glaube, Hoffnung und Liebe. Denn wenn zum Glauben nicht Hoffnung und Liebe hinzutreten, eint er weder vollkommen mit Christus noch macht er zu einem lebendigen Glied seines Leibes“ (DH 1530f).

Der erste Abschnitt „Durch den Glauben haben wir Frieden mit Gott (Röm 5,1)“ interpretiert ausführlich die erste (maßgeblich noch von Benedikt XVI. verfasste) Enzyklika „Lumen fidei“ von Papst Franziskus zum ausgehenden „Jahr des Glauben“ (527-546). Unter „In Hoffnung auf Gottes Herrlichkeit (Röm 5,3)“ behandelt Müller die Enzyklika „Spe salvi“ aus dem Jahr 2007 (546-554). Darin geht es um Fragen der irdischen Zukunftshoffnung und der Hoffnung auf ewiges Leben. Es werden auch neuzeitliche Formen der Erlösung (Aufklärung, Marxismus) beschrieben. Über Ratzingers Darlegungen fast hinaus geht Müller mit seiner Kant-Kritik (551). Mit dem folgenden Römerbriefvers „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen (Röm 5,5)“ ist die Erörterung der Antrittsenzyklika Benedikts XVI. „Deus est caritas“ (2005) überschrieben (555-566). Das Christentum als Religion des Geistes und der Liebe steht gegen die Totalitarismen des 20. und 21. Jahrhunderts (555). Zunächst stellt Müller mit Blick auf das „Jahr der Barmherzigkeit“ Rechtfertigung und göttliche Barmherzigkeit gegenüber. Diese kann nicht nur spekulativ in der Gotteslehre vorkommen, sondern ist in ihrem heilsgeschichtlichen Sinn als „Selbstmitteilung Gottes in Gnade und Wahrheit“ (556) zu verstehen. Die Liebe ist Gottes Wesen (1 Joh 4,16) und Gebot. Die Rede über die Gottes- und Nächstenliebe darf sich nicht aufdrängen: „Der erfahrene Christ weiß, wann er von Gott sprechen und wann er von Gott schweigen soll. Das wortlose Beispiel ist manchmal das beste Zeugnis für die Liebe Gottes, die auch zum Glauben an Gott und zur Erfahrung der Liebe Christi in der Gemeinschaft seiner Kirche führen kann“ (565). Alle drei Enzykliken zu den göttlichen Tugenden enden mit einer marianischen Anrufung. Dass „das marianische Prinzip der Kirche dem petrinischen Prinzip vorausgeht“ (wie Hans Urs von Balthasar und Kardinal Leo Scheffczyk öfter aufzeigten) wäre ein eigenes Thema. Kardinal Gerhard Müller beschließt sein großes Papstbuch, das im Jahr es Reformationsgedenkens gerade in Deutschland besondere Beachtung verdient (die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ brachte am 4. März 2017 eine Besprechung durch den Augsburger Dogmatiker Thomas Marschler), loyal mit einem Zeugnis über seinen päpstlichen Dienstherrn: „Das Christentum wird bei uns an Kraft gewinnen, der Glaube wieder als Geschenk erfahren, wenn wir begreifen, dass Gott die Liebe ist. Das ist auch das große Anliegen von Papst Franziskus, der nicht müde wird, einer hoffnungsschwachen und vom Fanatismus zerrissenen Welt die Botschaft der Liebe und Güte Jesu Christi und der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes zu verkünden“ (566). Glücklich (feliciter) der Papst, der so einen fachlich und menschlich qualifizierten Mitarbeiter haben kann - leider wurde aufgrund von nicht näher bekannten Differenzen seine Amtszeit im Juli 2017 von Papst Franziskus nicht verlängert. 

 

 

Dr. theol. Lic. theol. Stefan Hartmann (Jg. 1954) wirkt nach priesterlicher Tätigkeit in der Universitäts- und Pfarrseelsorge seit 2016 als freier (Trauer-)Redner, Publizist und Dozent in Bamberg. 

Aus: "Die Neue Ordnung" (Bonn/Walberberg) 71 (3/2017), 213-226